Der Kuss des Engels: Roman (German Edition)
dachte sie, während sie sich an einen freien Tisch vor einer Bäckerei setzte, die zugleich ein Café betrieb. Als sie Kaffee und ein Croissant bestellte, klang ihre Stimme gepresst, aber das hätte ebenso gut daran liegen können, dass sie übernächtigt war. Madame Guimard hatte noch geschlafen, als Sophie aufgestanden war, um rechtzeitig zum Unterricht zu kommen. Zumindest hatte sie hinter der geschlossenen Schlafzimmertür keinen Laut gehört und es nicht über sich gebracht, die alte Frau durch das Fauchen und Gluckern der Kaffeemaschine und klapperndes Geschirr zu wecken. Nein, wenn sie ehrlich war, hatte sie ihr nicht begegnen wollen. Sie hätte doch nur wieder versucht, ihr auszureden, was sie gesehen hatte.
Auf der Straße hatte sie dieselbe Stimmung wie jeden Morgen erwartet. Nur noch ein paar Pfützen erinnerten an den Regen der vergangenen Nacht. Die Sonne hatte die letzten Wolken vertrieben, und vor dem Café kehrte ein Straßenfeger die letzten Reste des Gestern in den absichtlich gefluteten Rinnstein, wo sie davongespült wurden. Sie gestand sich widerwillig ein, dass Madame Guimard recht behalten hatte. Was ihr am Abend zuvor Gewissheit gewesen war, verblasste im Morgenlicht zu einem fernen Traum. Hatte sie wirklich Rafaels Gesicht gesehen? Wie sollte das möglich sein? Er war tot!
Sie hatte – umringt von seinen trauernden Eltern und Geschwistern – am Familiengrab in Marburg gestanden, seiner Heimatstadt. In goldenen Lettern prangten Name, Geburts- und Sterbedatum auf dem alten Grabstein. Sogar eine Kopie der Sterbeurkunde hatte sie bekommen, um problemlos Dinge wie die gemeinsame Wohnung und den Telefonanschluss kündigen zu können, die auf Rafaels Namen gelaufen waren. Sollte das alles eine Inszenierung gewesen sein?
Aber die Fassungslosigkeit seiner Verwandten, die Verzweiflung der Mutter, all das hatte schmerzhaft echt gewirkt. Sie konnte nicht glauben, dass eine ganze Familie in der Lage sein sollte, so überzeugend Gefühle zu heucheln. Nein, wenn Rafael tatsächlich noch lebte, hatte er sie alle hinters Licht geführt. Rafe? Die ehrlichste Haut, die sie kannte, sollte den eigenen Tod vorgespielt haben? Die Vorstellung war so absurd, dass sie den Kopf schüttelte. Rafe hatte sogar protestiert, wenn ihm die Kassiererin im Supermarkt zu viel Wechselgeld gegeben hatte.
Ihr Blick fiel auf die Uhr an ihrem Handgelenk. O Gott! Vor Schreck verschluckte sie sich am blättrigen Croissant. Rasch zahlte sie, stürzte nebenbei den letzten Schluck Kaffee hinunter und eilte zur Métro-Station. Noch nie hatte sie auf den Treppen gedrängelt, sich stattdessen immer über die Leute aufgeregt, die sich rücksichtslos einen Weg durch die Menge bahnten. Nun hastete sie durch die weiß gekachelten Gänge und konnte gar nicht so oft »Pardon« rufen, wie sie jemanden anrempelte, nur um auf dem Bahnsteig festzustellen, dass es noch drei Minuten dauerte, bis der nächste Zug kam.
Beschämt und atemlos versuchte sie, mit ihrer Umgebung zu verschmelzen, und hoffte, dass niemand sie wiedererkennen und für blaue Flecken beschimpfen würde. Obwohl sie schon seit über einer Woche in Paris war, konnte sie noch immer darüber staunen, wie viele Kulturen sich hier vermischten. Zu ihrer Linken plauderten zwei stämmige Afrikanerinnen in weiten, bunten Gewändern, während zu ihrer Rechten ein Geschäftsmann in Anzug und Krawatte mit gerunzelter Stirn auf das Display seines Handys starrte. Ein paar amerikanische Touristen diskutierten lautstark, ob dies die richtige Métro nach Montmartre sei, ein Moslem in weißem Kaftan kratzte sich das bärtige Kinn, und zwischen den unauffälligen gewöhnlichen Pendlern schob sich eine bettelnde alte Rumänin hindurch, die in ihren langen Röcken und dem Kopftuch wie eine Wahrsagerin aussah. Sophie flüchtete vor ihr in die endlich eingetroffene Bahn. Natürlich wusste sie, dass diese Frauen das Jammern zur Kunstform erhoben hatten, um arglosen Touristen das Geld aus der Tasche zu ziehen, aber es fiel ihr dennoch jedes Mal schwer, sie abzuwehren.
Eingeklemmt zwischen den vielen Menschen, umklammerte Sophie eine Haltestange und versuchte, die stickige, schweiß- und kreuzkümmelgeschwängerte Luft auszublenden. Ihre Gedanken kehrten zu dem Gesicht im Feuerschein zurück. Konnte Rafes Tod ein Irrtum gewesen sein? Hatte man eine fremde Leiche mit ihm verwechselt, während er von den Rebellen verschleppt worden war? In den Nachrichten hörte man oft genug, dass in Kolumbien
Weitere Kostenlose Bücher