Der Kuss des Engels: Roman (German Edition)
Abgesehen von einer Nichte, mit der sie einmal zwei Stunden lang in einem Raum verschwunden war, den Sophie noch nicht von innen gesehen hatte, erhielt sie anscheinend auch keinen Besuch.
Und ich will die arme Frau an einem Freitagabend allein sitzen lassen … Bis sie sich die Treppen hinaufgekämpft hatte, war ihr schlechtes Gewissen schon so groß, dass ihre Entschlossenheit wankte.
»Ah, da bist du ja«, rief Madame Guimard, die gerade aus der Küche kam. Der Geruch ihres Nachmittagstees hing noch in der Luft. »Du wirst dich sicher frisch machen wollen und etwas Passenderes anziehen«, fügte sie mit einem strengen Blick auf die Jeans und das bunt bedruckte T-Shirt hinzu.
Überrascht sah Sophie an sich hinab. Eigentlich wollte sie nur ihre Jacke holen und wieder an die Seine verschwinden. »Ähm, ja, aber …«
»Da gibt es kein Aber«, fiel Madame Guimard ihr ins Wort. »So geht man nicht ins Procope.«
»Ins Procope? «, wiederholte Sophie überrascht. Einst hatte sie mit Rafael einen Blick auf die Speisekarte des ältesten Kaffeehauses von Paris geworfen und es für zu teuer befunden. Natürlich beleidigte man dieses Lokal nicht mit unpassender Garderobe, schon gar nicht am Abend. »Aber …«
»Ich will diesen Unsinn vom Bruch mit der Tradition nicht hören! Auch wenn es jetzt als Restaurant geführt wird, ist es immer noch das Procope«, ereiferte sich Madame Guimard. »Ich gehe jeden Freitagabend dort essen. Es gibt ausgezeichneten Fisch.«
Sophie schüttelte verwirrt den Kopf. »Nein, nein, darum geht es nicht. Das Essen ist bestimmt sehr gut. Ich wollte nur fragen, ob wir unsere Verabredung vielleicht auf einen anderen Tag verschieben können.«
Madame Guimard verschränkte die Arme vor der Brust. »Nein. Das wäre äußerst unhöflich gegenüber Madame Clément, denn sie hat sich deinetwegen den Abend freigehalten und uns einen Tisch reserviert.«
Was hatte das nun wieder zu bedeuten? Meinte sie etwa die Kellnerin? Doch die würde sich kaum den Abend freihalten, um sie zu bedienen. »Wer ist Madame Clément?«
Unsicherheit schlich sich in Madame Guimards missbilligende Züge. »Habe ich dir etwa nicht erzählt, dass ich mit ihr telefoniert habe?«
»Nein, mit wem?«
»Das musst du vergessen haben. Ich weiß genau, dass ich es dir erzählt habe.«
Eine Frage des Stolzes, schätzte Sophie und zuckte lächelnd die Achseln, als könne sie die Möglichkeit nicht ausschließen. Sie hatte bei ihrer Großmutter gelernt, dass Widerspruch in solchen Fällen zwecklos war. »Ich kann mich nicht daran erinnern.«
Madame Guimard nickte zufrieden. »Madame Clément ist die Tochter einer alten Kundin. Ihre Mutter kommt heute noch manchmal in den Laden und lässt sich etwas anfertigen.«
Sie hat einen Laden? Sophie war zu verblüfft, um nachzuhaken.
»Sie stammen aus einer guten Familie«, fuhr Madame Guimard fort. »Nicht übermäßig reich, aber wohlhabend. Der Großvater gründete eine Firma, um Wein zu exportieren. Mittlerweile sind sie zu einem großen Unternehmen gewachsen, aber das kann Madame Clément dir besser erklären. Ich dachte nur, du solltest sie kennenlernen, weil du eine Stelle im internationalen Handel suchst.«
»Oh, das …« Sophie fehlten die Worte. Eine alte Dame, die sie erst seit acht Tagen kannte, sorgte sich um ihre Zukunft, während sie den Schatten der Vergangenheit nachjagte. Beschämt lächelte sie.
O Gott! Ich habe verschlafen! Mit einem Ruck setzte sie sich auf. Sie hatte vergessen, die Fensterläden zu schließen, doch darüber war sie jetzt froh. Die Morgensonne spiegelte sich blendend hell auf den Glaseinsätzen der alten, dunklen Kleiderschranktüren und hatte sie geweckt. Draußen brummte bereits der Verkehr, und die Müllabfuhr polterte mit den Tonnen. Es kam Sophie vor, als würden sie hier täglich geleert. Außer sonntags vielleicht. Sie stutzte, dann sank sie erleichtert auf ihr Kopfkissen zurück. Es war Samstag. Niemand erwartete sie zum Unterricht.
Seufzend kuschelte sie sich wieder in das Laken, das die kratzige Wolldecke von ihrer Haut fernhielt. Sie hatte von Rafael geträumt, dessen war sie sicher, obwohl die Erinnerung an Einzelheiten mit dem Schreck zerstoben war. Vielleicht konnte sie die Bilder erneut heraufbeschwören, wenn sie die Augen schloss. Doch stattdessen sah sie Madame Guimard und Madame Clément am aufwendig gedeckten Tisch im Le Procope sitzen. Der mondänen Einrichtung mit den vielen Spiegeln, Lüstern und in Gold gerahmten
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