Der Kuss des Engels: Roman (German Edition)
Grünfläche mit Parkbänken vorbeigekommen, wo sie ungestört sprechen konnte. Sie schlug den Rückweg ein und legte sich in Gedanken bereits die Worte zurecht. Irgendwie musste sie dem Unbekannten das Geheimnis entlocken, falls er sich stur stellte. Sollte sie sich als Polizistin ausgeben? Oder doch besser bei der Wahrheit bleiben und ihn mit Tränen erweichen? Allmählich wünschte sie sich, sie wäre Privatdetektivin oder hätte zumindest eine entsprechende Ausbildung. Im Fernsehen besuchten die Ermittler in solchen Fällen einfach den Besitzer des Schiffs, und einer lenkte ihn ab, während der andere einen Blick in die Kundendatei oder das Auftragsbuch warf. Oder sie brachen nachts in sein Büro ein. Vielleicht wird er es mir ja auch einfach sagen.
Sie erreichte die nächstgelegene Bank und setzte sich. Während irgendwo in Paris ein Telefon läutete, krampfte sich ihr Magen zusammen. Alles hing von diesem Kerl ab, einer fremden Stimme, zu der sie nicht einmal ein Gesicht hatte. Sie stellte sich ein besser gekleidetes Pendant zur Besatzung vor, doch das half nicht gerade, ihre Nervosität zu überwinden.
»Hallo?«
»Bonjour, Monsieur … Verzeihen Sie, ich kenne Ihren Namen nicht. Ich habe Ihre Nummer von dem Schild an der Anlegestelle … Ihres Schiffs.« Natürlich des Schiffs! Sophie wand sich innerlich. Seines Autos wohl kaum.
»Arnaud.« Das musste dann wohl der Name sein. Der Mann klang etwas ungeduldig, aber nicht unfreundlich. »Wollen Sie die Lumière mieten?«
»Nein, Monsieur Arnaud. Mein Name ist Sophie Bachmann. Ich möchte Sie nur um eine Auskunft bitten.«
»Aha.« Die Stimme wurde um einige Grad kühler.
»Könnten Sie mir sagen, wer vorgestern Nacht auf Ihrem Schiff unterwegs war? Ich muss das unbedingt wissen«, rutschte es Sophie heraus. Sie hätte sich auf die Zunge beißen können. Als Angestellte der Gendarmerie ging sie jetzt nicht mehr durch.
»Ich bedaure, Madame. Solange meine Kunden mir nichts Gegenteiliges sagen, gehe ich davon aus, dass sie ihre Daten vertraulich behandelt sehen wollen.«
»Warten Sie!«, rief Sophie, aus Angst, er wolle auflegen. »Ich verstehe Ihre Bedenken, Monsieur Arnaud. Es geht mir nur darum, Ihren Kunden nach einem seiner Gäste zu fragen. Sie können ihn zuerst um Erlaubnis bitten, wenn das …«
»Madame«, fiel er ihr gereizt ins Wort. »Ich habe wirklich Wichtigeres zu tun, als meine Kunden mit solchen Anfragen zu belästigen. Und damit das gleich klar ist: Weitere Anrufe können Sie sich sparen! Guten Tag.«
»Aber …« Sie verstummte, denn die Leitung war tot. Das Handy noch immer am Ohr, starrte sie auf die Seine, und selbst ihre Gedanken schwiegen. Es dauerte einen Moment, bis sie sich der Schritte auf dem Splitt bewusst wurde, die sich ihr genähert hatten. Jemand stand zwei, drei Meter seitlich von ihr. Sie sah auf.
»Wie viel ist Ihnen der Kerl wert?«, fragte Henri.
A ls Sophie die Augen aufschlug, war ihr Zimmer in fahles Mondlicht getaucht. Der alte, dunkle Kleiderschrank mit den Glaseinsätzen schimmerte silbrig, geheimnisvoll und ein bisschen unheimlich. Sie glaubte, plötzlich zu verstehen, was C.S. Lewis inspiriert hatte, ausgerechnet einen Schrank zum Tor in das Zauberreich Narnia zu erwählen. Ihr war kühl. Schläfrig wollte sie sich die Decke über die Schulter ziehen und griff ins Leere.
O Mist! Bis auf die Schuhe lag sie vollständig angezogen auf dem Bett. Ausgelaugt durch die Hitze, den langen Marsch entlang der Seine und das Auf und Ab ihrer Gefühle hatte sie sich vor dem Abendessen ausgestreckt, um kurz auszuruhen und sich danach wieder auf die Suche nach Rafe zu machen.
Mist! Mist! Mist! Wie spät mochte es sein? Sie zog ihre Tasche aufs Bett und holte das Handy heraus. 03:13 Uhr.
Selbst für eine Samstagnacht war es jetzt zu spät, um sich allein auf die Straße zu wagen. Falls Rafael – oder der Typ, der ihm ähnlich sah – um diese Zeit überhaupt noch unterwegs war. So genau hatte sich Henri da nicht ausgedrückt. Kaum zu fassen, dass er ihr hundert Euro für eine Auskunft abgeknöpft hatte, die möglicherweise nur seiner kriminellen Phantasie entsprungen war. Im Grunde konnte jeder behaupten, dass sich der Mann auf dem Foto regelmäßig in der Gegend um die Rue Mouffetard herumtrieb, einer beliebten Ecke am Rand des Quartier Latin. Henri hatte nicht verraten wollen, woher er es wusste, also war ihr nichts anderes übrig geblieben, als ihm zu glauben – und zu bezahlen, denn mit einem wie
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