Der Kuss des Engels: Roman (German Edition)
zugesehen und einen Anatomieatlas aus dem vorletzten Jahrhundert gekauft, dessen Seiten man nur vorsichtig umblättern durfte, damit sie nicht zerfielen. Jetzt liegt er in einer Kiste mit Rafes Lieblingssachen zu Hause auf dem Dachboden. Ob sie ihm den Karton wohl bald zurückgeben durfte? Nicht, wenn ich noch lange hier herumstehe …
Auf dem Weg die Treppen hinab breitete sich ein ungutes Gefühl in ihr aus, das sie nicht einordnen konnte. War es Angst davor, das Schiff nicht zu finden? Oder auf einen Mann zu treffen, der bei Tageslicht nur entfernt wie Rafael aussah? Es war möglich, aber was wog diese Enttäuschung gegen die Chance, ihn lebend wiederzusehen? Diese verzagten Erwägungen konnten sie nicht ernsthaft daran hindern, die ersten Schiffe in Augenschein zu nehmen, doch der Eindruck, wie von einer Wolke überschattet zu sein, blieb.
Zuvorderst lag ein schwarzer, restaurierter Lastkahn, der in Form und Größe schon nahe an das herankam, was sie suchte. Er diente jedoch als Hausboot, das durch ein Sonnensegel und Kübelpflanzen sogar über eine einladende Terrasse verfügte. Wer wohl die ganzen Leute waren, die auf dem Fluss hausten? Hübsch anzusehen waren die Schiffe allemal, besonders das nächste, ein alter Zweimaster, wie Sophie sie nur aus Filmen kannte. Seine Messingbeschläge gleißten in der Sonne, und das Holz der Masten glänzte wie mit Lack überzogen. In Hamburg hätten wir bestimmt viele Segelschiffe gesehen. Sie hatte sich darauf gefreut, mit Rafael den Hafen zu erkunden und an den Wochenenden Abstecher an Nord- und Ostsee zu machen. Konnte es etwas Schöneres geben, als dort hinzuziehen, wo andere Urlaub machten? Noch so ein Traum, der wie eine Seifenblase geplatzt war …
Plötzlich wusste Sophie, wo ihr ungutes Gefühl herrührte. Bevor sie darüber nachdenken konnte, fuhr ihr Kopf bereits herum. Ein dunkel gekleideter Mann trat unter dem letzten Bogen der Pont Neuf hervor. Die undurchsichtigen Gläser der Sonnenbrille waren auf sie gerichtet.
S ophie wusste nicht mehr, was sie tun sollte. Hatte sie in der Métro nicht alles versucht, um den Fremden abzuschütteln? Sie konnte sich nicht in Luft auflösen, und vor allem war sie aus einem bestimmten Grund hier am Ufer und sah nicht ein, ihre Suche wegen dieses Stalkers abzubrechen. Stur stapfte sie weiter. Umgeben von so vielen Spaziergängern und Radfahrern und den Bewohnern der Hausboote, die ihre Blumen gossen, Decks strichen oder Wäsche aufhingen, konnte ihr nichts passieren. Doch sie spürte die Anwesenheit des Fremden hinter sich wie eine Androhung kommenden Unheils. Wie lange sollte dieses unheimliche Spielchen dauern?
Sie erwog, sich umzudrehen und ihn zur Rede zu stellen. Wenn sie sich wütend vor ihm aufbaute und ihn anfauchte, sie gefälligst in Ruhe zu lassen, musste er doch von ihr ablassen. Andererseits … Manche Männer fühlten sich in ihren Nachstellungen noch bestärkt, wenn sie erreichten, dass die Frau mit ihnen sprach – ganz gleich, was oder wie sie es sagte. Sophie sah ihn förmlich vor sich, wie er süffisant lächelte und versuchte, sie in ein Gespräch zu verwickeln. Er würde es als Vorwand nehmen, neben ihr herzugehen und auf sie einzureden, und jeder würde glauben, dass sie ihn kannte. Ein harmloser Streit unter Freunden. Oder würde er eine abweisende Miene machen und sie auflaufen lassen? Einfach kühl leugnen, nur um ihr dann weiter zu folgen, bis sie in eine einsamere Gegend kamen?
Großer Gott, ich hab zu viele schlechte Filme gesehen. Sie riss sich zusammen und versuchte, sich wieder mehr den Schiffen zu widmen. Bis zum Eiffelturm war es noch weit. Vielleicht verlor der Kerl irgendwann das Interesse. Bei dem schönen Wetter waren so viele Ausflügler unterwegs, dass sie sich keine Sorgen machen musste. Oder sollte sie ihn doch einfach anschreien und der Sache ein Ende machen? Sie fuhr herum, doch der Fremde lief nicht direkt hinter ihr, sondern ein gutes Stück entfernt, näher an der Mauer, dort, wo die Bäume Schatten warfen. Als scheue er das Sonnenlicht, obwohl es hier kein Entrinnen davor gab.
Ernüchtert wandte sich Sophie ab. Das bisschen Zorn, das sie eben noch beflügelt hatte, war erneut der Übermacht ihrer Ängste und Bedenken erlegen. Was war sie nur für ein erbärmlicher Feigling! Wütend auf sich selbst lief sie weiter.
Die Sonne heizte das Pflaster des Kais auf und wurde vom Wasser gespiegelt. Obwohl sie nur eine dünne Sommerhose und ein Top trug, fühlte sich Sophie
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