Der Kuss des Engels: Roman (German Edition)
wiederzufinden, wenn man ihr sagen konnte, wer die Lumière de Lutèce an jenem Abend gebucht hatte.
Als sie näher an die Kante des Kais trat, grinste der Mann mit dem schwarzen Gummischlauch, ohne dass ihm dabei die Zigarette aus dem Mundwinkel fiel. Er war von der Sonne fast schon dunkelbraun gebrannt und trug ein ausgeleiertes T-Shirt, abgewetzte Jeans und Turnschuhe. War der Besitzer so heruntergekommen wie sein Kahn, oder hatte sie eine Art Matrosen vor sich? Sie kannte sich mit Schifffahrt so wenig aus, dass sie nicht einmal genau wusste, ob es auf Flussschiffen überhaupt Kapitäne und Matrosen gab.
»Bonjour, Mademoiselle.« Sie musste die Worte erraten, da er die Zähne kaum auseinanderbekam. »Wenn’se ’n gutes Angebot suchen, sin’se hier richtig.«
»Bonjour, Monsieur«, erwiderte sie betont höflich. »Ich habe dieses Schiff vorgestern Nacht vor der Île Saint-Louis vorbeifahren sehen. So um Mitternacht herum?«
Der Fremde zuckte mit den Schultern. »Ja, könnte hinkommen.« Seinem Blick nach zu urteilen, fragte er sich, ob sie wirklich auf ein Geschäft hinauswollte.
»Haben Sie vielleicht …« Sie zog das Foto von Rafe aus der Tasche. »… diesen Mann an Bord gesehen?«
Raue, graufleckige Finger nahmen es entgegen. »Hm.« Wieder ein Achselzucken. »Weiß nich’. Bin die meiste Zeit unter Deck. Spülen und so. Is’ das ’n Verbrecher?« Er musterte sie erneut, versuchte wohl abzuschätzen, ob sie Polizistin war.
»Nein, mein Verlobter.« Sie konnte ihre Enttäuschung nur schwer verbergen. »Ich dachte, ich hätte ihn gesehen. Hinten auf dem Heck.«
»Hm«, brummte er, nahm die Zigarette aus dem Mund und rief plötzlich so laut, dass Sophie zusammenzuckte: »Henri!«
Sie starrte ihn entgeistert an, aber er schien sie überhaupt nicht wahrzunehmen, sondern zu lauschen. »Henri! Schwing mal deinen …« Er brach ab, als ihm wieder einzufallen schien, dass er eine Frau vor sich hatte. »Los, komm rauf!«
Eine gedrungene Gestalt tauchte in einer offenen Tür auf. Die Haare waren bereits licht und viel zu blond für die sonnenverbrannte Miene darunter. Auch die gelben Bartstoppeln wirkten fehl am Platz, weil sie heller waren als die Haut. »Was gibt’s?«, blökte Henri, dessen Arme so schwarz verschmiert waren wie das Unterhemd, das er nachlässig in den Hosenbund gestopft hatte. Tätowierungen und Schmutz gingen nahtlos ineinander über.
Sein Kumpan zeigte ihm das Foto. »Haste den schon mal gesehen?«
Henri warf für Sophies Geschmack einen viel zu kurzen Blick darauf. »Nee.«
»Bitte, sehen Sie noch einmal hin, Monsieur! Ich glaube, dass er vorgestern Nacht an Bord war.«
Ein scharfer Blick seiner gelblich braunen Augen traf sie. »Da waren ’ne Menge Leute. Kann mir nich’ jeden merken.« Damit wandte er sich ab und verschwand wieder im Bauch des Kahns. Sein Mannschaftskamerad gab Sophie mit einem dritten Achselzucken das Bild zurück.
»Haben Sie nicht noch mehr Kollegen, die Sie fragen können?«
Er schüttelte den Kopf. Die Zigarette hatte wieder den Weg in seinen Mundwinkel gefunden. »Die werden nur angeheuert, wenn’s Arbeit gibt.«
Nein, das kann es nicht einfach gewesen sein! Sie hörte selbst, wie flehend ihre Stimme klang, als sie sagte: »Können Sie mir vielleicht wenigstens sagen, wer das Schiff vorgestern gemietet hatte?«
»Das weiß nur der Chef«, brummte ihr Gegenüber und deutete zum Schild über dem Steg hinauf.
Sophie begriff, dass er die Telefonnummer meinte, die dort stand. »Trotzdem vielen Dank«, beeilte sie sich zu sagen, bevor er mit seinem noch immer die Geranien überflutenden Schlauch weiterzog. Wenn es sein musste, würde sie eben den Eigentümer der Lumière de Lutèce anrufen. Wo war nur der verfluchte Stift? Sie war sicher, dass sie einen eingesteckt hatte. Bevor sie noch lange weiter in ihrer Tasche kramte, griff sie zum Handy, um die Nummer zu speichern. Das Display zeigte eine neue SMS an. Sicher wieder so eine lästige »Willkommen in der EU«-Nachricht. Seit sie in Paris war, wechselte ständig ihr Netzanbieter, und jedes Mal kam eine Info über die neuen Tarife. Sie tippte die Telefonnummer des Schiffseigners ein und ließ das Handy wieder in der Tasche verschwinden.
Am liebsten hätte sie sofort angerufen, aber sie fürchtete, ausgerechnet der Blumenmörder könnte Zeuge ihrer endgültigen Niederlage werden, und mit ihren Tränen wollte sie dann doch lieber allein sein. Ein Stück stromaufwärts war sie an einer kleinen
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