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Der Kuss des Engels: Roman (German Edition)

Der Kuss des Engels: Roman (German Edition)

Titel: Der Kuss des Engels: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Lukas
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weiß. Du bist in diesem Zustand nicht zu ertragen.«
    »Na ja, du hast es mir auch nicht gerade leicht gemacht. Aber das ist okay«, schob Lara rasch nach. »Du hast viel durchgemacht. Ich freu mich, dass es dir besser geht.«
    Ich jage Geistern nach, will von Brücken springen und mir die Pulsadern aufreißen … »Ich bin mir nicht sicher, ob es mir besser geht. Sagen wir lieber, dass ich mich anders fühle. Ich habe hier … eine neue Sicht auf die Dinge bekommen. Mal sehen, wie sich das entwickelt.«
    »Klingt jedenfalls, als würdest du wieder nach vorne schauen. Das ist ein Fortschritt.«
    Fragt sich nur, in welche Richtung.  

    Henri hatte etwas von La Mouffe genuschelt, doch da der Name in jedem Reiseführer stand, wusste Sophie, dass er die Rue Mouffetard gemeint hatte. Die Straße war zu nah, um ernsthaft die Métro in Erwägung zu ziehen. Sophie wählte Jeans und eine schicke Bluse und band sich ihre Jacke um die Hüfte, da es nachts frisch werden würde. Bevor sie aufbrach, erzählte sie Madame Guimard, in welcher Gegend sie ausgehen wollte, denn die alte Dame hätte ohnehin darauf bestanden. Gleich am ersten Abend hatte sie betont, dass sie sich Sophies Eltern gegenüber in dieser Hinsicht verantwortlich fühle. Dass Sophie vierundzwanzig war, schien sie nicht zu beeindrucken, denn für sie waren anscheinend alle Menschen unter vierzig noch Kinder.
    Womöglich würde sie mir Hausarrest erteilen, wenn sie wüsste, was ich vorhabe, dachte Sophie schmunzelnd, als sie auf die Straße hinaustrat. Sie hatte das Gefühl, etwas Wichtiges vergessen zu haben, und ging in Gedanken durch, was sie brauchte. Schlüssel, Geld, Stadtplan, sogar das Handy hatte sie im letzten Moment eingesteckt. Nach dem Gespräch mit Lara war der Akku leer gewesen, sodass sie es beinahe am Ladegerät vergessen hätte, aber als Notanker war es doch zu wichtig – selbst halb aufgeladen. Ihr fiel nicht ein, was sie an einem Abend in der Großstadt noch vermissen könnte. Sicher setzte ihr nur die Aufregung zu. Sie war so kribbelig wie vor dem ersten Date, obwohl sie sich ständig vorhielt, wie dumm und voreilig das war.
    Unterwegs wurde sie ruhiger, und bald führte der Weg bergauf, was den Namen der Straße – Rue de la Montagne Sainte-Geneviève – erklärte. Sophie bog jedoch ab, bevor die Kirche mit dem Reliquienschrein der heiligen Genoveva in Sicht kam. Die traurige Geschichte des Schreins, der im Aufruhr der Revolution geschändet worden war, als ob die über tausend Jahre zuvor verstorbene Frau eine Schuld an adliger und kirchlicher Willkür träfe, hatte sie angerührt, ja geradezu empört, als sie mit Rafael eher zufällig ausgerechnet diese Kirche besichtigt hatte. Doch jetzt stand ihr nicht der Sinn nach stillen Gewölben und geschichtsträchtigen Mauern. Seit Rafes Beerdigung ging ihr das ewige Schweigen der Toten dort zu nah.
    Sie folgte den auffallend vielen jungen Leuten in die Rue Descartes, an deren Beginn ihr bereits laute Musik aus einer Bar entgegenschallte. Jugendliche schlängelten sich auf knatternden Mofas durch die bunte Menge aus Studenten, Einheimischen und jungen Touristen. Bekannte riefen sich Grüße zu. Schon jetzt wurde gelacht und geprahlt, obwohl der Abend gerade erst begann. Noch warfen die Häuser in der untergehenden Sonne lange Schatten über die enge Straße, und die ausgelassene Stimmung war mehr der Vorfreude als dem Alkohol geschuldet. Autofahrer verirrten sich kaum hierher. Tische und Stühle wucherten aus den Lokalen ins Freie und machten gemeinsam mit den Flaneuren dem Verkehr die Straße streitig, die schließlich in einen kleinen gepflasterten Platz mündete.
    Vier Bäume mit ungewöhnlich großen Blättern, ein paar Blumenkübel und gestutzte Hecken umgaben den Springbrunnen in der Mitte des Place de la Contrescarpe. Ein niedriger Gitterzaun hielt die Leute aus dem Grün fern, und eine von schwarzen Eisenpfosten baumelnde Kette wiederum die Autos und Motorroller von den Menschen, die aus allen Richtungen zusammenströmten. Auch hier quollen Sitzgelegenheiten aus etlichen Cafés. Das Stimmengewirr schwoll zu einem Summen in Sophies Ohren an. Sie blieb einen Augenblick lang stehen, um ihre Möglichkeiten zu überdenken. Wenn ihr Gedächtnis sie nicht täuschte, mündete direkt gegenüber die Rue Mouffetard in diesen Platz. Aber ganz gleich, wo sie Posten beziehen würde, könnte sie nie die komplette Straße überblicken. Dazu war La Mouffe zu lang, zu unübersichtlich, und es

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