Der Kuss des Engels: Roman (German Edition)
ihm legte sie sich nicht an. Hundert Euro, und nun hatte sie auch noch die erste Gelegenheit verschlafen, dieser neuen Spur nachzugehen.
Das konnte wieder nur mir passieren. Und schon zwei neue Nachrichten.
Sophie hielt den Atem an. Vielleicht hatte Monsieur Arnaud es sich anders überlegt. Sie rief die Nachrichten auf. Die erste war tatsächlich nur eine Tarifinformation, die sie sofort löschte. Es stand ohnehin jedes Mal dasselbe darin. Sie öffnete die zweite.
»Liebe Sophie, deine Mutter macht sich Sorgen, weil du dich nicht meldest. Ruf sie doch mal an! Gruß, Tante Else.«
Darauf kann sie lange warten! Sophie warf das Handy zurück in die Tasche. Typisch Else. Wen interessierte schon, wie es ihr ging? Hauptsache, ihre Mutter war glücklich. Sie würde sich erst wieder zu Hause melden, wenn sie ihrer Mutter einen lebenden Rafael präsentieren konnte. Etwas anderes hatte sie für ihr Verhalten nicht verdient.
Der Ärger hatte die letzten Reste Müdigkeit vertrieben, stattdessen machte sich das verpasste Abendessen als Loch in ihrem Magen bemerkbar. Sie seufzte und schwang sich aus dem Bett. Was soll’s? Such ich mir eben noch einen Mitternachtssnack und sehe zu, dass ich morgen fit bin.
In Pantoffeln tappte sie auf den dunklen Flur hinaus. Vom Ticken der großen Standuhr abgesehen, war es totenstill in der Wohnung. Das Parkett knirschte unter ihren Schritten wie brechendes Eis. Schatten schienen vor ihr zu fliehen, als sie die angelehnte Tür zur Küche öffnete. Andere krochen näher. Beunruhigt tastete Sophie nach dem Lichtschalter. Die einzelne Glühbirne im weiß-rot karierten Lampenschirm scheuchte die Schatten tiefer in die Ecken des etwas heruntergekommenen Zimmers zurück. Ruß und fettiger Kochdunst hatten Tapeten und Decke über die Jahre vergilben lassen, und die Schränke, die an eine alte Landhausküche erinnerten, waren von Holzwürmern geplagt. Das Emaille-Spülbecken mit dem gegossenen Wasserhahn vervollständigte den Eindruck, in einem Museum gelandet zu sein. Vielleicht hatte Madame Guimard irgendwann beschlossen, dass sich eine Renovierung in ihrem Alter nicht mehr lohne.
Es roch nach einer Mischung aus Kernseife, deftigem Eintopf und Moder. Auf dem abgenutzten Küchentisch lagen ein Suppenteller nebst Löffel und ein halbes Baguette samt Brotmesser. Sophies Blick wanderte zum alten Gasherd. Ein Blechtopf stand darauf, an dem ein Zettel mit Madame Guimards schwungvoller und doch akkurater Handschrift lehnte. »Ich wollte dich nicht wecken. Du sahst so müde aus.«
Sophie musste lächeln. Die wenigen Worte wärmten ihr Herz mehr als alles, was ihre Mutter seit Rafes Tod gesagt hatte. Es gelang ihr, ohne größere Verpuffung die Gasflamme anzuzünden, worauf sie ein bisschen stolz war, weil sie vor ihrer Ankunft in diesem Haus noch nie einen Gasherd benutzt hatte. Während der Eintopf heiß wurde, goss sie sich ein Glas Wasser ein und wandte sich dem Brot zu. Wieder wurde ihr die Stille in der Wohnung bewusst. Ein kaum hörbares Zischen der Flamme war das einzige Geräusch. Erneut war ihr, als werde sie beobachtet, doch das Zimmer war leer. Ihr Blick blieb an der undurchdringlichen Dunkelheit vor dem Fenster hängen.
Nein, das konnte nicht sein. Sie war im vierten Stock.
Trotzdem lief ihr ein Schauder über den Rücken, und sie wünschte, sie hätte ein Sweatshirt über das Top gezogen. Zum Glück würde sie gleich heiße Suppe im Magen haben. Sie griff nach dem Messer. Plötzlich sah sie sich mit der Klinge über ihre Pulsadern fahren. Ein roter Spalt öffnete sich unter dem gezähnten Stahl. Sie blinzelte. Das Messer lag unverändert in ihrer Hand. Ihre Haut war unberührt. Aber für einen Augenblick hatte das Bild so echt gewirkt, dass sie versucht gewesen war, es zu tun – die Vision Wirklichkeit werden zu lassen. Wie erstarrt ließ sie das Messer zurück auf den Tisch fallen. Wer auch immer du bist, verschwinde!, dachte sie, ohne zu wissen, zu wem sie eigentlich sprach.
Am nächsten Nachmittag saß Sophie im Schneidersitz auf dem Bett und versuchte, französisches Wirtschaftsrecht zu pauken. Während ihrer Ausbildung war sie ausgerechnet auf diesem trockenen Fachgebiet immer gut gewesen, aber nun wollten die geänderten Paragraphen der letzten Jahre nicht in ihrem Gedächtnis haften bleiben. Ständig erwischte sie sich dabei, dass die Buchstaben vor ihren Augen verschwammen, weil ihre Gedanken zum Abend vorauseilten. Hundertmal sah sie in verschiedenen Varianten vor sich,
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