Der Kuss des Engels: Roman (German Edition)
gab zu viele Abzweigungen.
Also beschloss sie, erst einmal zu bummeln, bis der Hunger sie in ein Lokal trieb. Da sie nicht wusste, wo und wann Rafe auftauchte – und ob er überhaupt jemals herkam –, konnte sie ebenso gut aufs Geratewohl herumlaufen und dabei nach ihm Ausschau halten. Kaum hatte sie den Platz überquert, entdeckte sie ein Stück vor sich eine hochgewachsene Gestalt mit dunkelbraunem, leicht gelocktem Haar, das bis in den Nacken fiel. Die federnden Bewegungen des schlanken, aber breitschultrigen Mannes deuteten Jugend an.
Sophies Herz schlug schneller. Sie musste ihn einholen, einen Blick auf sein Gesicht erhaschen. Ohne ihn aus den Augen zu lassen, ging sie flotter. Plötzlich schien sie jeder behindern oder ihr den Weg abschneiden zu wollen. Sie zwängte sich durch Lücken, wo vorher viel Platz gewesen war, umging Leute, die Speisekarten studierten, und drängelte sich durch eine Gruppe unschlüssig herumstehender Engländer. Konnte sie so viel Glück und Pech auf einmal haben? Ihr war, als sei sie keinen Deut näher herangekommen. Jetzt erst bemerkte sie den kleineren Mann an Rafes Seite, der genauso dunkle, aber kurz geschorene Haare hatte. Fahrig deutete er auf ein Café oder einen der Gäste, woraufhin sein Begleiter hinüberblickte. Die Enttäuschung traf Sophie wie ein kalter Regenguss. Der Junge, den sie für Rafael gehalten hatte, war höchstens zwanzig und besaß eine ungewöhnlich große, gebogene Nase. Nicht einmal im Dunkeln hätte sie ihn mit Rafe verwechseln können.
Noch zweimal spielten die Augen ihr solche Streiche, dann ließ sich ihr Puls nicht mehr so leicht aus der Ruhe bringen. Ernüchtert begann sie, auch den Rest der Umgebung wieder bewusster wahrzunehmen. Die Rue Mouffetard war eine sehr schmale, alte Straße, in der sich noch so manches Haus mit Fassadenmalereien und Reliefen schmückte. Zunächst wechselten sich Kneipen, Restaurants und kleine Geschäfte ab, später dominierten die – sonntagabends leider geschlossenen – Marktstände, denn La Mouffe war berühmt für ihren täglichen Lebensmittelmarkt. Sogar in einem ihrer Lieblingsfilme, Die fabelhafte Welt der Amélie, kaufte Monsieur Bretodeau regelmäßig in dieser von Obst- und Gemüseauslagen gesäumten Gasse sein Brathähnchen. Doch die Realität war nicht ganz so idyllisch, sondern schloss auch Fast-Food-Läden und laute Musik aus einigen Lokalen ein.
Sophie schlenderte bis zu der alten Kirche, die das Ende der Mouffe markierte, und drehte wieder um. Die Gerüche aus den Küchen und Schnellimbissen zeigten allmählich Wirkung. Sie entdeckte ein italienisches Restaurant, vor dem sie auf der Straße sitzen und die Passanten beobachten konnte. Dass auf der Tafel mit den Tagesgerichten auch noch Tiramisu lockte, entschied die Angelegenheit. Nur weil dieser Henri sie geschröpft hatte, würde sie nicht auf ihr Lieblingsdessert verzichten.
Während sie sich durch eine eigenwillige Salatkreation mit Parmaschinken und Grapefruit kämpfte und anschließend das zum Glück perfekte Tiramisu umso mehr genoss, senkte sich die Nacht auf Paris herab. Hunderte, wenn nicht Tausende mussten mittlerweile an ihr vorübergezogen sein, nur Rafe war nicht darunter gewesen.
Sie hatte ihr Budget mit einem Espresso weiter strapaziert, um den Aufbruch so lange wie möglich aufzuschieben, doch seit einer Weile warf der Kellner ihr ungeduldige Blicke zu. Wenn sie nichts mehr bestellte, blockierte sie einen Tisch. Bevor er unhöflich werden konnte, bat Sophie um die Rechnung und machte sich auf den Rückweg, aber aufgeben wollte sie noch nicht, denn in den Bars fing das Leben jetzt erst richtig an.
Rund um den Place de la Contrescarpe ging es besonders hoch her. An einigen Cafétischen wurde lautstark debattiert, an anderen gegrölt und gelacht. Der Fahrer eines Autos, der im Schritttempo über den Platz schleichen musste, wurde mit Flüchen bedacht, weil er die Nachtschwärmer teilte wie Moses das Rote Meer. Hinter ihm fluteten sie zurück auf die Fahrbahn, als hätte es ihn nie gegeben. Angeheiterte Mädchen zogen Arm in Arm um die Häuser, lachten kreischend oder kicherten, wenn sie von jungen Männern angesprochen wurden. Die Menge war hier nicht so bunt wie an mancher Métro-Station. Zwar entdeckte Sophie Menschen aller Völker und Hautfarben, während sie nach Rafael Ausschau hielt, doch die Schwarzen, Asiaten und Nordafrikaner, die in diesem Viertel ihr Vergnügen suchten, bevorzugten in Sachen Mode den europäischen
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