Der Kuss des Engels: Roman (German Edition)
Nein, sie war da! Das helle T-Shirt zog Sophies Blick sofort auf sich. Sie wollte Rafes Namen rufen, wollte, dass er sich umdrehte und sie erkannte. Doch der Impuls erstarb, als sie die beiden Männer zu seiner Rechten bemerkte, mit denen er gerade ein paar Worte wechselte. Ihren Bewegungen haftete etwas Steifes, Entschlossenes an, das nicht zu harmlosen Nachtschwärmern passte. Alle wilden Theorien über die Gründe für sein Untertauchen fielen ihr wieder ein. Wenn sie jetzt einen Fehler beging, konnte sie alles zunichtemachen. Es war besser abzuwarten, bis sie ihn allein sprechen konnte.
Darauf bedacht, den Abstand nicht zu groß werden, aber auch nicht schrumpfen zu lassen, folgte sie den drei Männern, die den Platz überquerten und auf der anderen Seite wieder verließen. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie noch immer ihren Geldbeutel mit der einen und die Jacke mit der anderen Hand umklammerte, während sie die Umhängetasche in der Eile nur unter den Arm geklemmt hatte. Nicht gerade die empfehlenswerte Art, wie man im nächtlichen Paris seine Wertsachen transportieren sollte. Sie nahm die Jacke zwischen die Zähne, um das Portemonnaie einstecken und den Gurt der Tasche über die Schulter streifen zu können, während sie gleichzeitig immer wieder nach vorn spähte. Unweigerlich fiel sie zurück. Sie nahm den selbstverpassten Knebel aus dem Mund und ging schneller.
Vor ihr bogen Rafe und seine Begleiter ab. Sophie rannte. Sofort drohte ihr die Tasche von der Schulter zu rutschen. Mit einer Hand hielt sie den widerspenstigen Gurt, mit der anderen die Jacke, während sie mit dem Ellbogen versuchte, die hüpfende Tasche zu bändigen. Das kann doch alles nicht wahr sein! Sie verkniff sich einen lauten Fluch und verkürzte ihre Schritte, um in unauffälligerem Tempo um die Straßenecke zu biegen. Sie hatte schon genug Blicke auf sich gezogen.
In der Seitenstraße ging es ruhiger zu. Das blinkende grüne Kreuz einer Apotheke war eine der wenigen Leuchtreklamen, die hier den Laternen Konkurrenz machten. Erleichtert entdeckte Sophie die drei Männer wieder, als sie gerade darunter hinweggingen. Einer der beiden Fremden hatte über einem Rest kurzen, dunklen Haars eine Halbglatze, auf der sich das grüne Neonlicht spiegelte. Er war so groß wie Rafael, aber deutlich breiter und massiger gebaut, der andere dagegen einen halben Kopf kleiner und schmächtig. Sie trugen kurzärmelige Hemden und hatten sich nicht die Mühe gemacht, diese in den Hosenbund zu stopfen. Sophie trat Schweiß auf die Stirn. Versteckten sie etwa Waffen? Waren es dieselben Männer, mit denen sie Rafe bereits auf dem Schiff gesehen hatte?
Sie überquerten die Straße, um erneut um eine Ecke zu verschwinden. Sophie beeilte sich. Außer einem einzelnen Fußgänger auf der anderen Seite war vor ihr niemand mehr zu sehen. Trotz der lauen Sommernacht umwehte ihn ein dunkler Mantel, doch davon abgesehen, fiel Sophie nichts Ungewöhnliches an ihm auf. Er bog in dieselbe Gasse ab wie Rafe. Ein Zufall? Aber er war schon zuvor auf der anderen Straßenseite gewesen. Auch hier wohnten Menschen, die irgendwann nach Hause gingen; das bewiesen schon die wenigen Fenster, in denen noch Licht brannte. Manchmal hörte sie Stimmen oder leise Musik aus einem der oberen Stockwerke oder das Brummen eines Motors in der Ferne.
Sie betrat die Gasse, durch die gerade so ein Auto passen mochte, und erschrak. Im Schatten des ersten Hauseingangs rührte sich etwas Großes am Boden. Instinktiv wich Sophie zurück. Unverständliche Laute drangen zu ihr herüber. Ein bärtiges Gesicht tauchte auf und gleich darauf eine zum Mund geführte Flasche. Ein Clochard! Erleichtert, aber dennoch misstrauisch schlug sie einen Bogen um den Obdachlosen.
Als sie wieder nach vorne sah, verschwand die Gestalt im Mantel gerade in einem Gebäude auf der linken Straßenseite. Dahinter rührte sich nichts. Nur vereinzelt beleuchteten Laternen Teile der Gasse, die von Müll und Graffiti gesäumt war. Sophie wurde kalt. Wo war Rafe geblieben? Mit wachsender Verzweiflung rannte sie über das alte, unebene Pflaster. Sie hatte ihn sich nicht eingebildet. Er musste hier irgendwo sein!
Ihre Schritte hallten laut von den Wänden wider, von denen der Putz bröckelte. Es stank nach Unrat und Urin. Irgendetwas huschte vor ihr in eine Mauernische. Im Zwielicht hätte es ebenso gut eine Ratte wie eine Katze sein können. Sie wollte es lieber nicht wissen und schielte im Vorüberhetzen dennoch in jede
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