Der Kuss des Engels: Roman (German Edition)
Jean Méric. Kennen Sie ihn?«
Es fiel schwer, einzuschätzen, ob der Mann erleichtert oder enttäuscht war oder beides, denn er rang sich eine Grimasse ab, die wohl ein Lächeln sein sollte, und drehte sich auch schon um. »Jean!« Dem Ton nach hätte es ebenso gut ein Hilferuf sein können. »Hier ist jemand für dich!«
Irgendwo aus den Eingeweiden des Hauses drang eine gedämpfte Antwort, die Sophie nicht verstand.
»Kommen Sie! Ich bring Sie zu ihm.« Er ging voraus, und sie musste sich beeilen, um Schritt zu halten. In Schlangenlinien ging es um die in den Raum hineinragenden Regale wie durch ein Labyrinth, das die Unwissenden von den Eingeweihten trennte. Sophies Blick streifte Sammlungen zu allen denkbaren kontroversen Themen, von UFOs und Außerirdischen über weiße und schwarze Magie bis zu Kompendien alternativer Medizin und Abhandlungen über fernöstliche Philosophie. Ungeöffnete Neuware teilte sich einträchtig den Platz mit antiquarischen Werken, die zum Teil ein beträchtliches Alter erahnen ließen. Sie erinnerten Sophie an das Stöbern bei den Bouquinisten an den Quais und weckten ihre Neugier, doch gegen das Rätsel um Rafe kam nichts an.
In der Rückwand des Geschäfts gab es einen schmalen, bis unter die Decke von Büchern umstandenen Durchlass. Ihr nervöser Führer wies hinein und erklärte: »Einfach die Treppe hinauf.« Ohne eine Antwort abzuwarten, hastete er wieder davon, als würde eine Horde ungeduldiger Kunden nach ihm verlangen.
Kopfschüttelnd trat Sophie über die abgenutzte Schwelle und fand sich direkt vor einer verschlossenen Tür wieder. Zu ihrer Rechten führte eine steile, hell gestrichene Stiege in den ersten Stock empor, wo Licht durch einen Spalt fiel, sonst wäre es dort oben stockfinster gewesen. Die Stufen knarrten unter ihren Füßen noch lauter als Madame Guimards Parkett.
Hinter der Tür am oberen Ende der Treppe befand sich ein ebenso langer, schmaler Raum wie eine Etage tiefer, doch die Regale beschränkten sich hier auf die Wände, sodass der Blick bis zur Fensterfront reichte. Dazwischen verteilten sich ein paar dunkle Tische, auf denen sich ebenfalls Bücher und Zeitungen stapelten. Vor den Fenstern stand ein Schreibtisch quer, und die betagten grünen Leselampen kannte Sophie nur aus altehrwürdigen Bibliotheken. Auch der rote Teppich, der den Boden bedeckte, und ein unverkennbarer Tabakgeruch trugen zum Flair eines Herrenclubs bei.
Jean kam ihr einige Schritte entgegen. Er wirkte noch schlanker, als sie ihn in Erinnerung hatte, aber das mochte der komplett schwarzen Kleidung geschuldet sein. Eine fast unberührte Zigarette qualmte ausgedrückt im Aschenbecher eine letzte Schliere, und sein dunkler Mantel hing über der Lehne eines Stuhls. »Bonjour, Sophie.«
»Hallo, Jean.« Der deutsche Gruß rutschte ihr heraus, weil sie über die Erkenntnis stolperte, sich auf seinen Händedruck zu freuen. Als sie zu ihm aufsah, stellte sie fest, dass seine Haare noch feucht waren, als habe er gerade erst geduscht. War er erst nachmittags aufgestanden?
Er bemerkte den Blick und fuhr sich nervös durch die trocknenden Strähnen. »Ich habe trainiert und wollte Ihnen die Nebenwirkungen nicht zumuten.« Seine Augen wichen ihr aus, seine Stimme klang weniger fest als gewohnt. »Bitte, nehmen Sie doch Platz!«
Sie folgte seiner einladenden Geste und setzte sich. »Sie treiben Sport?«, fragte sie, um die unerwartet verkrampfte Situation zu entspannen. Was war nur in ihn gefahren?
»Ja, dies und das. Man muss ja in Form bleiben«, antwortete er beiläufig, doch Sophie hatte den Eindruck, dass er absichtlich vage blieb. »Konnten Sie noch ein bisschen schlafen?«
»Nicht genug«, gestand sie und errötete, weil ihr die nächtliche Störung immer noch peinlich war.
Er ließ sich ebenfalls auf einem Stuhl nieder, obwohl er angespannt wie eine Feder wirkte. »Ich weiß, und ich sollte Ihnen jetzt reinen Wein einschenken, aber ich … Haben Sie sich jemals mit dem Leben nach dem Tod beschäftigt?«
Sie konnte ihn nur verdattert ansehen.
»Ich meine, haben Sie irgendeine Theorie, was mit uns allen geschieht, nachdem wir gestorben sind? Von den … biologischen Zerfallsprozessen einmal abgesehen.«
»Also ich …« Sophie beschlich ein ungutes Gefühl. Dieser Laden … Warum hatte Jean sie ausgerechnet ins L’Occultisme bestellt? »Was hat das denn mit Rafe zu tun? Er ist doch ganz offensichtlich gar nicht tot. « Verunsichert machte sie eine Geste, die
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