Der Kuss des Engels: Roman (German Edition)
Tisch sprach. Sie sah aus wie ein billiges Flittchen, der Minirock zu kurz, die Lippen zu grell geschminkt. Keine Sekunde länger wollte Sophie riskieren, dass er vor ihren Augen zu flirten begann. Benommen stand sie auf und wandte sich zum Gehen. Eine dunkle Ahnung ließ sie aufblicken. Die Beine drohten unter ihr nachzugeben. An einem Baum beim Springbrunnen lehnte der Mann mit der Sonnenbrille.
Schlaflos wälzte sie sich in ihrem Bett herum. Jedes Mal, wenn sie die Augen schloss, sah sie Rafe vor sich, wie er sie angeschaut und keine Regung gezeigt hatte. Musste es nicht irgendeine logische Erklärung geben, die ihn von jeder Schuld reinwusch? Eine Amnesie zum Beispiel, infolge einer schweren Kopfverletzung oder eines psychischen Traumas. Wäre das nicht auch ein plausibler Grund dafür, warum er sich völlig anders benahm und wie ein Franzose sprach?
Großer Gott! Ein erschossener Toter, Entführungen, Drogenhändler, verdeckte Ermittler, Amnesien und ausgerechnet Paris … Das passt doch alles überhaupt nicht zusammen! Sie musste endlich aufhören, ihr Gehirn mit Dingen zu martern, die keinen Sinn ergaben, sonst würde sie noch durchdrehen. Doch immer, wenn sie an diesen Punkt kam, fingen ihre Gedanken von selbst an, erneut die Fakten ordnen zu wollen. Hilflos wusste sie die Nacht verstreichen, den Morgen und damit den Unterricht nahen.
Müdigkeit ließ ihre Überlegungen träge werden. Die Lider fielen ihr zu. Seufzend vergrub sie das Gesicht im Kissen – und fühlte einen Blick auf sich.
Alarmiert riss sie die Augen auf. Ihr Zimmer sah aus wie zuvor. Kein Schatten war tief genug, als dass sich dort jemand hätte verstecken können. Dennoch schlug ihr Herz so schnell, als sei sie gerade die Treppen heraufgerannt. Mit einem Mal wurde es dunkler im Raum, als hätte sich etwas vor das Fenster geschoben.
Das ist nicht möglich! Wir sind im vierten Stock! Beherzt schwang sie die Beine aus dem Bett, um sich selbst zu überzeugen. Manchmal musste man sich der Angst eben stellen, wenn man sich nicht ins Bockshorn jagen lassen wollte. Trotzdem fiel es ihr schwer, den Blick auf das Fenster zu richten. Was, wenn dort doch etwas war?
Sie gab sich einen Ruck und sah auf. Mondlicht verlieh dem Himmel ein gespenstisches Grau. Eine Wolke segelte vor dem Mond vorüber, der als blasse Scheibe hindurchschimmerte und im nächsten Moment wieder strahlend zum Vorschein kam. Doch schon schob sich der nächste Schemen heran und drohte das silberne Auge zu verschlingen, das in Sophies Zimmer starrte. Oder spürte sie einen anderen, unsichtbaren Blick? Sie konnte sich nicht anders helfen, sie musste das Fenster öffnen und die Läden schließen, um auszusperren, was sie beunruhigte.
Angenehm kühle Luft strich herein. Vorsichtig beugte sie sich über die schmiedeeiserne Brüstung und griff nach einem der zusammengeklappten Läden, die zu beiden Seiten des Fensters hingen. Von der Straße drangen Schritte herauf. Wartete der Kerl mit der Sonnenbrille dort unten und beobachtete das Haus? Sie war auf direktem Weg heimgegangen – zu verstört und kraftlos für komplizierte Versuche, ihn abzuhängen. Was daraus werden würde, war ihr gleichgültig gewesen. Sollte er ihr eben folgen. Sie hatte einfach nur in Sicherheit sein wollen, bevor die Straßen einsam wurden.
Die Scharniere der Läden quietschten leise und die Kanten schabten über das Fenstersims, aber es war sicher nicht laut genug, um Madame Guimard zu wecken. Durch die Ritzen sickerte noch immer fahles Licht herein, was Sophie recht war, damit sie nicht in undurchdringlicher Finsternis lag. Nachdem sie das Fenster geschlossen hatte, fühlte sie sich besser und kroch zurück in ihr Bett. Unter der Decke war es warm und anheimelnd, doch das Adrenalin in ihren Adern hielt einem übereifrigen Wachhund gleich erneut den Schlaf in Schach. Wieder begann sich in ihrem Kopf alles um die seltsame Begegnung mit Rafe zu drehen. Wäre es Tag gewesen, hätte sie Becca angerufen, um sie über Amnesien auszuhorchen. Sie ist seine Schwester. Müsste ich ihr nicht sagen, dass er hier ist? Dass er lebt? Nein, sie konnte es ihr noch nicht erzählen. Nicht ohne handfeste Beweise. Sie musste abwarten, was Jean ihr über dieses ganze verrückte Mysterium enthüllen würde. Wusste er, dass Rafe sie nicht mehr erkannte? Hatte er sie deshalb vor ihm gewarnt? Sehnsüchtig suchte ihr Blick im Dunkeln nach ihrer Tasche mit dem Handy. Mittlerweile hatte er sich wohl längst mit seinem
Weitere Kostenlose Bücher