Der Kuss des Engels: Roman (German Edition)
deshalb noch einmal anrufen sollte – was sie vor der Mittagszeit ohnehin nicht gewagt hätte, weil er so spät noch im Einsatz gewesen war oder was auch immer er nachts treiben mochte. Zuerst hatte sie Bedenken, er könne für den Abend bereits andere Pläne haben und ihr deshalb ganz absagen. Doch seit der Mittagspause ging es ihr vor Schlafmangel so elend, dass sie es kaum hatte erwarten können, die Sprachschule früher zu verlassen.
Die Eile auf dem Weg zur Rue Saint-Jacques hatte ihren schwächelnden Kreislauf wieder auf Touren gebracht, sodass sie sich besser fühlte. Vielleicht trug auch die Aussicht, endlich mehr zu erfahren, ihren Teil dazu bei. Vor Aufregung war sie schon vor ein Auto gelaufen, dessen Fahrerin gerade noch bremsen konnte, und nun wäre sie beinahe an dem kleinen Schaufenster vorbeigegangen, das aus dem Augenwinkel doch noch ihre Aufmerksamkeit erregte. Jean hatte von einem Buchladen gesprochen, und hier lagen zweifellos Bücher aus. Den Rest hatte sich Sophie allerdings anders vorgestellt. Die Scheibe war stellenweise blind. Der Fensterrahmen hätte schon seit einer Weile neu gestrichen werden müssen, und die Schutzumschläge der vordersten Bücher waren im Sonnenlicht vergilbt, ihre Beschichtung brüchig und eingerissen. Weiter hinten schirmte ein ausgeblichener, eingestaubt wirkender Vorhang das Ladeninnere vor neugierigen Blicken ab.
Niemals wäre Sophie von selbst auf die Idee gekommen, ein so vernachlässigt wirkendes Geschäft zu betreten. Kein Vergleich mit den blitzenden Glasfassaden der modernen Buchläden, die durch Rolltreppen und transparente Aufzüge im Lauf der Zeit zu Kaufhäusern mutiert waren. War sie hier richtig? Erst als sie den Kopf in den Nacken legte, entdeckte sie das kleine Schild hoch über dem Eingang. Delamair stand darauf zu lesen, wie Jean gesagt hatte, aber darunter prangte in viel größeren Lettern L’Occultisme – Der Okkultismus.
Was für ein seltsamer Name. Selbst wenn sie jemals auf die abwegige Idee gekommen wäre, eine solch spezialisierte Buchhandlung zu eröffnen, hätte sie sie nicht so trocken Die Esoterik, Die Kriminalität oder Die Romantik genannt. Während sie sich noch fragte, ob es ein besonderer französischer Tick sei oder ihr ein Hintersinn dabei entging, fiel ihr auf, dass sie es vor sich herschob, den Laden zu betreten. Und das, obwohl Jean wahrscheinlich schon wartete. Scheute sie in letzter Minute davor zurück, die Wahrheit über Rafe zu erfahren? Oder lag es nur an der Tür, die ebenso alt und abweisend aussah wie das Schaufenster?
So oder so: Bring’s hinter dich! Sie stieg die wenigen Stufen hinauf, drückte die Klinke – ein geradezu anachronistisches Detail – und trat ein. Hinter der Tür schlug ihr der typische Geruch alter Bücher entgegen. Im Gegensatz zur schwülen Hitze draußen, die die Wolken der letzten Nacht zurückgelassen hatten, war die Luft hier zwar muffig, aber trocken und kühl. Der Laden war so schmal wie das Haus, das ihn beherbergte, doch wie weit sich der Raum nach hinten erstreckte, verbargen die vollgestopften Regale. Im vorderen Bereich lagen einige Neuerscheinungen aus, deren bunte Cover im angestaubten Ambiente fehl am Platz wirkten. Sophie las Titel wie »2012 – Apokalypse oder Segen?«, »Matrix-Manipulationen « und »Sieben Schritte zum Reichtum «. Vielleicht hätte der Inhaber des L’Occultisme die sieben Schritte einmal lesen sollen, aber möglicherweise lag ihm auch gar nichts an Geld, und er hielt es mehr mit der Botschaft »Einfach Sein«.
Ein Geräusch hinter der Theke verriet ihr, dass sie nicht mehr allein war. Aus den Tiefen des Ladens war ein kleiner, in dieser Umgebung erstaunlich jung wirkender Mann aufgetaucht, der ein wiederum sehr passendes kariertes Hemd trug. Sie hätte jede Wette angenommen, dass er im Winter einen Pullunder darüberzog. Das kurze schwarze Haar und die dunklen Augen bildeten einen harten Kontrast zu seiner Blässe, die verriet, dass er die Sonne etwa so oft zu Gesicht bekam wie ein Vampir. Er sah sie an, als müsse sie sich verlaufen haben, und Sophie wurde sich der vielen Haut sehr bewusst, die ihr harmloses luftiges Kleid unbedeckt ließ.
»Bonjour, ähm, kann ich … kann ich Ihnen irgendwie helfen?«
Sophie bemühte sich, die Situation durch ein Lächeln zu entspannen, doch das führte nur dazu, dass dem überforderten Verkäufer Schweiß auf die Stirn trat. »Bonjour, Monsieur. Ich bin hier eigentlich nur mit jemandem verabredet.
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