Der Kuss des Engels: Roman (German Edition)
sämtliche Bücherregale umfassen sollte. »Sie wollen mir doch nicht etwa weismachen, dass er eine Art Zombie oder Vampir ist?«
Jean verzog gequält das Gesicht. »Eine Menge junger Frauen finden Vampire in letzter Zeit höchst romantisch.«
»Bitte, Jean, mir ist nicht nach solchen Witzen zumute! Wir reden hier über meinen Verlobten, der von Guerilleros erschossen wurde. Das könnte man nicht einmal dann mit einem Vampirbiss verwechseln, wenn es diese Monster gäbe.«
»Sie haben die Vampire ins Spiel gebracht, Sophie, nicht ich«, erinnerte er sie.
Das ist wahr. Ruhe bewahren!, ermahnte sie sich, aber es war schwierig, weil sie seine Anspannung spürte. »Pardon, ich bin wohl einfach überreizt. Und es verwirrt mich, dass Sie mich ausgerechnet hierher gebeten haben.«
Jean nickte. »Mehr als verständlich. Vielleicht war das ein Fehler, aber sehen Sie diese griechischen und lateinischen Werke? Delamairs kann es hier oben in mancher Hinsicht mit jeder theologischen Fakultät aufnehmen. Ich komme oft her, um Dinge nachzuschlagen. Ich dachte, das könnte Ihnen hilfreich sein.«
Theologische Fakultäten? »Jean, wovon zum Teufel reden Sie da?«
Wieder umspielte ein bitteres Lächeln seine Mundwinkel. »Gutes Stichwort.«
»Was? Der Teufel? Jean!«
»Ich wollte es Ihnen so schonend wie möglich beibringen, aber ich fürchte, es gibt keinen solchen Weg.« Er sah sie geradeheraus an. »Rafael, Ihr Verlobter, ist tot. Sie haben ihn beerdigt, und was von ihm mittlerweile übrig ist, wollen weder Sie noch ich allzu genau wissen.«
»Aber …«
»Nein, hören Sie jetzt zu. Der Mann, den Sie für Rafael halten, ist nicht einmal ein Mensch. Er war mir schon eine Weile aufgefallen, aber nachdem ich Sie getroffen hatte, habe ich mich gezielt nach ihm erkundigt. Möglicherweise wurde Rafael nach seinem Tod die Ehre zuteil, in die Reihen der Engel aufgenommen zu werden, weshalb er bei Bedarf diesen Körper benutzt. Aber der, dem Sie da nachlaufen, ist ein gefallener Engel! Er nennt sich Gâderêl oder Gadreel, Mauer Gottes, und das war nach dem Buch Henoch der Name des gefallenen Engels, der Eva im Paradies verführte.«
Sophie starrte ihn an. »Ein Engel ? Haben Sie getrunken?« Doch sie wusste, dass er nüchtern war. Er hatte weder eine Alkoholfahne noch den glasigen Blick eines Drogensüchtigen.
»Ein gefallener Engel«, wiederholte er ernst. »Sie sind dazu verdammt, Böses zu tun. Sie können nicht anders. Verstehen Sie? Halten Sie sich von ihm fern, sonst wird er Verderben über Sie bringen.«
Wie hatte sie sich so in ihm täuschen können? Sophie stand auf. »Sie sind ja vollkommen irre! Halten Sie sich von mir fern, sonst können Sie was erleben!«
Er sprang auf, schnappte dabei ein Buch, das auf dem Tisch lag. »Sophie, warten Sie!« Mit zwei schnellen Schritten war er vor ihr und versperrte ihr den Weg. »Ich sage die Wahrheit. Ich schwöre es! Nehmen Sie dieses Buch mit! Es ist eine gute Einführung in …«
»Bleiben Sie mir mit Ihren esoterischen Spinnereien vom Leib!« Sie schlug seine Hand zur Seite, um an ihm vorbeizustürmen.
»Das hat nichts mit Esoterik zu tun.« Erneut schnitt er ihr den Weg ab und ergriff ihren Arm. »Das ist Theologie!«
»Fassen Sie mich nicht an!« Sophie schüttelte seine Berührung ab, fürchtete einen Moment, er könne fester zupacken und sie mit Gewalt zurückhalten wie in jenem dunklen Hauseingang.
Doch er hob nur beschwichtigend die Hände, von denen eine noch immer das stockfleckige Buch hielt, und sah sie eindringlich an. »Bitte, Sophie, glauben Sie mir! Wenn Sie die Dämonen in Ihr Leben ein…«
»Gehen Sie mir endlich aus dem Weg, oder ich schreie das ganze Arrondissement zusammen!«, fauchte sie und drängte sich an ihm vorbei. »Wenn Sie mich nicht in Ruhe lassen, zeige ich Sie an!« Jetzt rannte sie. Endlich hatte sie die Tür erreicht und polterte die Stiege hinab. Alles, was sie über ihren Lärm noch hörte, war ein halb flehendes, halb verärgertes »Sophie!«.
A ls sie Madame Guimards Wohnung betrat, kochte Sophie immer noch vor Wut. Es war nur ein kurzer Fußmarsch von der Buchhandlung in die Rue Jean de Beauvais – zu kurz, um den gewaltigen Zorn verrauchen zu lassen, den sie auf Jean, auf sich selbst und auf die ganze Ungerechtigkeit der Welt empfand. Vehement schleuderte sie die Pumps von ihren Füßen, dass sie gegen die Wand knallten, und erwartete eine Rüge ihrer Vermieterin, doch alles blieb ruhig.
Wie konnte ich nur auf diesen
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