Der Kuss des Engels: Roman (German Edition)
Verrückten reinfallen? Sie stapfte den knirschenden Flur entlang und spähte vergebens durch die offenen Türen des Salons und der Küche. Wenn sie sich nicht bald bei irgendjemandem über die psychopathischen Pariser Männer auslassen konnte, würde sie platzen. Aber auch Bad und Schlafzimmer waren leer. Sie hatte Madame Guimard gesagt, dass sie später heimkommen werde als sonst. Vielleicht war die alte Dame deshalb auswärts essen gegangen. Allmählich beschlichen sie Zweifel, ob es überhaupt so eine gute Idee war, sich ausgerechnet bei Madame Guimard zu beklagen. Wer konnte wissen, auf welche Ideen sie kam, wenn sie den Eindruck gewann, Sophie sei abends auf der Straße in Gefahr.
Hinter der Tür des Zimmers, das sie noch nicht betreten hatte, hörte sie gedämpftes Surren und Rattern. Das Geräusch kam ihr bekannt vor, doch sie konnte es nicht einordnen. »Madame Guimard?«
»Ah, Sophie, du bist da. Ich komme gleich!«
»Nein, nicht nötig! Ich muss noch dringend telefonieren.«
»Ist gut.«
Barfüßig patschte sie in den Salon zurück und machte es sich mit dem altmodischen Telefon auf einem der Samtsessel bequem. Umso besser, wenn sie nicht befürchten musste, dass Madame Guimard mithörte. Lara war nach viermal Läuten am Apparat.
»Hi, hier ist Sophie.«
»Ach, du bist’s. Ich hab mich schon gewundert, wer seine Nummer unterdrücken lässt.«
Trotz ihres Ärgers musste Sophie grinsen. »Bei Madame Guimard muss man eher froh sein, dass sie eine Nummer hat. Ich sag nur: Wählscheibe.«
»Au Backe! Da brauch ich nach Internet wohl gar nicht zu fragen.«
»Nee, wirklich nicht.«
»Aber in Paris gibt’s bestimmt Internetcafés. Oder bist du etwa völlig auf Entzug?«
»Irgendwie schon«, fiel Sophie auf. »Aber hier ist so viel los, dass ich es ehrlich gesagt gar nicht vermisse.«
»Echt nicht? Wow! Was treibst du denn die ganze Zeit? Und sag bloß nicht lernen!«
»Nein, deshalb ruf ich ja an. Ich muss dir unbedingt erzählen, was mir gerade passiert ist. Diese Pariser sind so was von durchgeknallt!«
»O Mist, Sophie, kannst du ’ne Kurzfassung machen? Stefan und ich sind fürs Kino verabredet.«
Na toll! »Soll ich besser gleich auflegen?«
»Nein! Tut mir leid, Sophie. Wenn’s ein Notfall wäre, kein Ding. Aber zum Plaudern hab ich jetzt eben nur noch zehn Minuten, sonst komm ich zu spät. Komm, schieß los! Jetzt hast du mich schon neugierig gemacht.«
Sophie seufzte. »Ich hab da einen Kerl getroffen und dachte, der sei richtig in Ordnung, nett und so. Aber vorhin …«
»Was?«, fiel Lara ihr ins Wort. »Du hast einen Mann kennengelernt, und das erzählst du mir erst jetzt?«
»Das war doch erst vor zwei Tagen.«
»Am Sonntag? Dann ist’s keiner aus dem Kurs. Ah, verstehe, wolltest du da nicht abends ausgehen?«
Manchmal konnte Sophie nur staunen, was sich Lara alles merkte. »Ja, genau, da hab ich ihn getroffen.«
»Wie getroffen? Hallo? Ich will Details hören.«
»Ich dachte, du hast keine Zeit.«
»Wie soll ich denn mit dir über ihn ablästern, wenn ich keine Vorstellung von der Sache habe?«
Fieberhaft überlegte Sophie, wie viel sie sagen durfte. Auf keinen Fall wollte sie die seltsamen Vorgänge um Rafe erwähnen, sonst würde Lara sie für durchgeknallt erklären. »Ich … ähm … hatte mich in eine echt üble Gegend verlaufen, und er hat mich nach Hause gebracht.«
»Ein Retter in der Not? Mein Gott, wie romantisch! Wie sieht er aus?«
»Lara, erstens hat er mir mit seiner Rettungsaktion einen halben Herzinfarkt eingejagt, und zweitens ist es nicht so, wie du denkst.«
»Warum? Ist er nicht an dir interessiert?«
»Keine Ahnung, vielleicht schon, aber er interessiert mich nicht. Ich liebe Rafe, schon vergessen?«
»Ähm, ich verstehe ja, dass du ihn immer lieben wirst. Er war wirklich toll und alles, aber er ist tot, Soph. Es ist nicht fair, wenn du den Lebenden nicht mal eine Chance gibst.«
Das ist die Stelle, an der ich es ihr sagen müsste … Doch sie konnte es nicht. Solange sie nicht alles darüber wusste, würde es in Laras Ohren nach Wunschdenken und Hirngespinsten klingen. »Ich würde sagen, dass Jean seine Chance heute verpatzt hat, als er sich als Freak geoutet hat. Er glaubt allen Ernstes an Engel!«
»An Engel?« Lara schien ein Kichern zu unterdrücken. »Ist das nicht irgendwie süß?«
»Pfff.« Sophie war sprachlos. Ja, aus Laras Perspektive konnte man es vielleicht niedlich finden. Sicher dachte sie dabei an elfenhafte
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