Der Kuss des Engels: Roman (German Edition)
Schein der Straßenlaternen auf dem nassen Asphalt. Dampf stieg aus Abluftschächten auf, die in Paris zum Alltag gehörten. Wohnraum war knapp und damit teuer, sodass sogar Appartements im zweiten Untergeschoss angeboten wurden. Sophie konnte sich nicht vorstellen, unter der Erde zu leben. Musste man sich dabei nicht vorkommen wie ein Maulwurf?
Aus Madame Guimards Küchenradio hatte sie erfahren, dass sich das Gewitter westlich der Innenstadt entladen hatte. Nur der Regen und die kältere Luft waren bis ins Quartier Latin vorgedrungen. Sie atmete tief ein. Die Kühle belebte sie und stärkte ihre Entschlossenheit. Weder Jeans absurde Warnungen noch ein verfluchter Stalker würden sie davon abhalten, das Rätsel um Rafe zu lösen. Sie hatte zwar kein Pfefferspray, aber eine Flasche Haarspray in ihre Tasche gesteckt, das in den Augen eines Angreifers sicher ebenso verheerende Wirkung zeigte. Noch waren die Straßen und Gassen um den Place de la Contrescarpe einigermaßen belebt, doch auch für den einsameren Rückweg fühlte sie sich mit ihrer chemischen Keule gerüstet. Wenn es ganz dumm käme, könnte sie immer noch ein Taxi bestellen, obwohl es für die kurze Strecke lächerlich wäre.
In der Bar, die sie schon einmal als Beobachtungsposten gewählt hatte, war an einem späten Mittwochabend nicht viel los. Sie fand sofort einen Tisch mit Blick auf den Platz. Niemand beachtete sie, während sie an ihrer Cola nippte und vorgab, in Le Monde zu lesen. Hinter einer Zeitung getarnt … Ich werde noch Profi-Detektivin, dachte sie spöttisch.
Auch wenn Jeans Ideen haarsträubend anmuteten, wurmte es sie, dass sie noch keine bessere Erklärung für die seltsamen Vorgänge hatte. Sie musste endlich mit Rafe sprechen und ihn fragen. Seufzend nahm sie einen weiteren Schluck. Waren Jeans Theorien nicht schon deshalb haltlos, weil selbst ein toter Rafe, also ein Geist, Engel oder was auch immer, sich trotzdem noch an sie erinnern musste? Oder hatte er das doch nur vorgetäuscht? Sie merkte, welchen irrationalen Gedanken sie schon wieder nachhing, und versuchte, sich mit einem Artikel über die neuesten Erkenntnisse der Klimaforscher abzulenken, die von Woche zu Woche düsterere Visionen ausmalten.
Ein Paar Scheinwerfer leuchtete in der Straße gegenüber auf. Die Lichter kamen näher, das Auto fuhr auf den Kreisel um Bäume und Springbrunnen. Sophie wollte sich schon wieder abwenden, doch der dunkle Wagen hielt an. Es war eine Limousine, eigentlich zu groß für die engen Straßen dieses Viertels, und sicher teuer.
Eine Hintertür öffnete sich und im Licht, das aus dem Innenraum drang, stieg ein Mann in einem hellen T-Shirt aus. Sophie ließ die Zeitung sinken. Rafe hob die Hand zu einem lässigen Gruß an die im Wagen verbliebenen Gestalten und schlug die Tür zu. Die Dunkelheit verschluckte sein Gesicht, das Auto fuhr davon. Sie sprang auf, zog die Jacke über und schnappte sich ihre Tasche. Wie gut, dass sie dieses Mal gleich bezahlt hatte.
Als sie vor die Tür trat, verließ Rafe bereits den Platz – zügig, ohne sich umzublicken. War er auf dem Weg nach Hause oder zu einer Verabredung? Hastig folgte sie ihm, hatte plötzlich doch wieder Hemmungen, über die Straße nach ihm zu rufen. Zu seltsam hatte er sich bisher benommen. Sie fürchtete, er könne sogar davonlaufen, und dann hätte sie keine Chance, ihn einzuholen. Meine Güte, das ist albern. Es ist nur Rafe. Aber ein Teil von ihr widersprach.
Er bog schon an der nächsten Ecke wieder ab, und Sophie beeilte sich, um ihn nicht aus den Augen zu verlieren. Die Straße war leer, aber nicht so erschreckend heruntergekommen wie jene Gasse, in die sie ihm am ersten Abend gefolgt war. Überrascht hielt sie inne, als er stehen blieb, um eine Tür zu öffnen, und in dem dazugehörigen Haus verschwand. Wohnte er hier?
Rasch lief sie zu dem Eingang, der sich wieder geschlossen hatte, und überflog im Dämmerlicht die wüst zusammengewürfelten Namensschildchen. Nicht einmal die Klingeln selbst sahen alle gleich aus. Bei keinem Namen hatte sie den Eindruck, er könne irgendetwas mit Rafael zu tun haben. Mit laut klopfendem Herzen öffnete sie die schwere, verzogene Tür, die über den gefliesten Boden schleifte. Im Treppenhaus herrschte Dunkelheit. Seltsam. Hatte Rafe kein Licht angemacht, oder ging es so rasch von selbst aus? Sie lauschte in die Finsternis, doch es erklangen keine Schritte aus den oberen Stockwerken. Auch im Parterre war alles still.
Neben der Tür
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