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Der Kuss des Engels: Roman (German Edition)

Der Kuss des Engels: Roman (German Edition)

Titel: Der Kuss des Engels: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Lukas
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République aus der Métro, um sich weiteres Umsteigen zu ersparen, sprintete die Treppen hinauf und hastete die Rue du Faubourg du Temple entlang, bis sie den Canal Saint-Martin kreuzte. Der an dieser Stelle sehr schmale, von gemauerten Kais und Platanen gesäumte Wasserweg strahlte inmitten des hektischen Verkehrs angenehme Ruhe aus. Verglichen mit den Massen im Marais und Quartier Latin verirrten sich nur wenige Touristen hierher und bestaunten die vielen kleinen Brücken und Schleusen. Kinder tobten auf schattigen Spielplätzen, während ihre Mütter misstrauisch Clochards und herumlungernde Jugendliche beäugten. Fast jede der Parkbänke unter den Bäumen war von Leuten besetzt, die plauderten oder gedankenverloren auf das trübe, grünliche Wasser starrten. Die Hitze machte auch die Menschen träge, doch der eine oder andere lenkte einen besorgten Blick zum sich verdüsternden Himmel und warf den Tauben und Enten seine Picknickreste zu.
    Kein Wunder, dass der Kanal in dieser Schwüle nach altem Fisch riecht, dachte Jean, als er die umherdümpelnden Abfälle sah. Er ließ die lichten Platanen mit ihren gelben Stämmen hinter sich und tauchte in die dunkleren Schatten der Kastanien ein, die sich zu beiden Seiten der nächsten Schleuse zu einem beeindruckenden Blätterdach verbanden. Jenseits des Schleusentors kam endlich die blaugrün gestrichene Brücke in Sicht, die Lilyth gemeint haben musste. Obwohl nicht annähernd so hoch wie die Bäume, überspannte sie den Kanal dennoch in elegant hohem Bogen und wirkte dabei von Weitem filigran und luftig. Aus der Nähe büßte das stählerne Geländer jedoch viel Flair ein, weil man die großen Öffnungen durch schlichte Gitter gegen Unfälle gesichert hatte.
    Jean wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn und hielt nach Lilyth Ausschau. In ihrer schwarzen Gewandung hockte sie wie ein aufgeplusterter Rabe auf einer Stufe der Brücke. Samt und Spitze raschelten wie Gefieder, als sie sich erhob und ihm mit kajalumrandeten Augen entgegensah. Springerstiefel lugten unter dem langen Rock hervor, den ein dunkelrotes, seidenes Fransentuch gürtete. Auch das zu einer phantasievollen Frisur geflochtene und aufgesteckte Haar war schwarz gefärbt, doch es wirkte etwas zerzaust. Das einzige Anzeichen einer panischen Flucht?
    Der Himmel war endgültig hinter einer grauen Wolkenwand verschwunden. Von einer Minute zur anderen legte sich Dämmerung über die Stadt. Die letzten bislang unbekümmerten Spaziergänger beeilten sich nun doch, vor dem Unwetter Schutz zu suchen, und hasteten davon.
    »Lilyth, was gibt’s?«, erkundigte sich Jean ein wenig außer Atem.
    »O Mann, du hast dir bestimmt Sorgen gemacht.« Beschämt schlug sie die Augen nieder. Die gepiercten Lippen hatte sie schwarz geschminkt, sodass sie sich wie ein Loch in ihrem weißen Gesicht ausnahmen. »Tut mir leid, dass ich so in Panik war, aber als ich vorhin über alles nachgedacht habe, hab ich’s echt mit der Angst bekommen. Können wir einfach reden? Ich weiß nicht mehr, auf welcher Seite ich stehe.«
    »Klingt für mich nach einem Fortschritt.«
    »Ja, danke, würg’s mir rein!« Lilyth wandte sich ab und stieg die letzten Stufen hinauf, die bis kurz vor den Scheitelpunkt der Brücke reichten. Als sie Jean mit einer aufgebrachten Geste bedachte, klimperte Silberschmuck an ihrem Handgelenk. »Du kannst doch froh sein, dass ich dich auf dem Laufenden halte.«
    Jean schmunzelte über ihre Selbstüberschätzung. Sie war nur eine seiner Quellen und nicht gerade die Informantin aus dem gefährlichsten Umfeld, wenn man es am Blutzoll maß, der in anderen Kreisen gezahlt wurde. Es gab ergiebigere Felder, auf denen sich Dämonen am Unglück der Menschen weiden konnten, als die Spielereien selbsternannter Satanspriester. »Ich bin dir durchaus dankbar dafür«, betonte er dennoch aufrichtig. Mit den Einblicken, die Lilyth ihm gewährte, konnte er bei Abbé Gaillard immer wieder mal einen Gefallen erkaufen.
    »Du musst mir glauben!« Sie blieb stehen und drehte sich wieder zu ihm um. »Dieses Mal ist es anders. Früher wollte ich nicht, dass sie mich mit dir sehen, weil sie mich dann rausgeworfen hätten. Aber jetzt …« Ihre Augen weiteten sich. »Ich glaube, Maurice würde mir ernsthaft etwas antun.«
    »Hat er dich bedroht?«, wunderte sich Jean. Nach allem, was Lilyth ihm bisher berichtet hatte, war Maurice in seinen Augen nicht mehr als ein selbstverliebter Taugenichts. Ein Berufssohn reicher Eltern,

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