Der Kuss des Engels: Roman (German Edition)
der sich in der Pariser Gothic-Szene herumtrieb und mit dem Nimbus eines echten Teufelsanbeters umgab. Jean kannte Kerle wie ihn. Sie eiferten berühmten Hexenmeistern wie Aleister Crowley nach und hofften auf willige Anhängerinnen, um ihre sadistischen Machtphantasien an ihnen ausleben zu können. Der Satan war ihnen dabei völlig egal. Sie verehrten ihn nicht als eine Art Gott, sondern benutzten ihn als Mittel zum Zweck. Zumindest glaubten sie das.
»Nein«, wehrte Lilyth ab. Es war so dunkel geworden, dass man glauben konnte, es sei Nacht. »Er hat bis jetzt ja keinen Grund, mir zu misstrauen. Aber er hat sich verändert. Es ist kein Spiel mehr für ihn. Er lacht nicht mehr darüber, wenn was schiefläuft. Gestern hatten wir … ein Ritual. Madeleine sollte vom Markt einen schwarzen Hahn besorgen. Mir … war schon klar, dass er sterben sollte. Ich find’s nicht toll, aber wir essen die Biester ja auch. Also warum nicht?« Sie sah ihn herausfordernd an.
Jean bemühte sich um eine nonchalante Geste. Er wollte nicht, dass sie über einem Streit den Faden verlor. Wetterleuchten flackerte am Horizont.
»Jedenfalls umklammerte Madeleine den Korb, in dem sie angeblich den Hahn hatte, und als wir mit den Beschwörungen so weit waren, sollte sie das Blutopfer rausholen. Aber in dem Korb war überhaupt nichts drin. Sie hat fast geheult, weil sie den ganzen Tag durch die Stadt gerannt ist und nirgends einen schwarzen Hahn bekommen hat. Da ist Maurice ausgeflippt. Er hat sie gepackt und angeschrien und an eine Säule gestoßen, dass ihr Kopf dagegengeknallt ist. Plötzlich war Blut in ihrem Haar. Die Haut ist richtig aufgeplatzt. Ich gslaub, wir waren alle geschockt. Nur Maurice nicht. Der hat das Blut aufgefangen und einfach weitergemacht.«
»Ist sie schwer verletzt?«, erkundigte sich Jean besorgt. Er kannte das Mädchen nicht, es ging ihm mehr um das Ausmaß des Schadens, den Maurice angerichtet hatte. Es war eine Sache, seine kleine Anhängerschar dazu anzustiften, in Mausoleen einzubrechen, um frisch bestatteten Toten Haare und Fingernägel als Zauberingredienzen abzuschneiden, aber eine völlig andere, dem Teufel Menschenblut darzubringen. Maurice hatte die Grenze überschritten, hinter der Jean ihn nicht mehr ignorieren konnte.
»Die Wunde musste genäht werden, und es geht ihr nicht besonders gut, aber es ist nichts Ernstes.«
»Was wirst du jetzt machen?«
Sie warf ihm einen missmutigen Blick zu. Dunkle Tupfen blühten auf dem Brückensteg auf wie Tintenkleckse, als die ersten, dicken Tropfen fielen. »Ich weiß, dass du mich immer gewarnt hast. Keine Ahnung. Das sind meine Freunde. Wir sind richtig gut zusammen. Ich kann die Magie spüren, wenn wir alle fokussiert sind.«
»Lilyth, du hast es selbst gesagt: Das ist kein Spiel mehr! Es wird noch mehr Verletzte geben, und am Ende vielleicht sogar Tote. Du musst mit den anderen reden, sonst werde ich euch aufhalten müssen.«
Der Regen wurde stärker. Die Luft kühlte merklich ab.
»Lass meine Freunde in Ruhe!«, fauchte Lilyth. »Das ist alles Maurices Schuld! Seit er diesen Caradec mitgebracht hat, geht es mit unserem Zirkel bergab.« Sie machte auf den klobigen Absätzen kehrt und polterte davon.
Caradec? Jean überlief ein Schauder, der nichts mit dem kalten Guss zu tun hatte. Bedächtig zog er den Mantel über und prüfte den Sitz seiner Waffen. Wenn Caradec in diese Angelegenheit verwickelt war, steckte Lilyth in größeren Schwierigkeiten, als sie ahnte.
D u gehst noch aus?«, staunte Madame Guimard, die in Nachthemd und Bademantel auf dem Weg ins Schlafzimmer war, als Sophie vollständig angezogen den Flur betrat.
»Ja, es ist etwas Dringendes.« Sie eilte an der alten Dame vorbei, um jeder Diskussion zuvorzukommen, streifte die Sneaker über und griff nach ihrer Jacke. »Warten Sie nicht auf mich! Es wird spät.«
»Es ist spät «, stellte Madame Guimard sachlich fest.
»Ich weiß. Bonne nuit, Madame!«, rief Sophie, während sie die Tür hinter sich zuzog. Erst jetzt nahm sie sich Zeit, die Schuhe zu schnüren. Sie stieß ihre Vermieterin nicht gern vor den Kopf, aber sie wollte ihr auch keine hanebüchene Notlüge auftischen, die sie ohnehin sofort durchschaut hätte. Wahrscheinlich glaubte sie nun, Sophie treffe sich mit einem Mann, und lag damit nicht völlig falsch. Vorausgesetzt, dass sie Rafe wiederfand. Doch das schien nicht mehr so schwierig, seit sie wusste, wo er sich abends herumtrieb.
Vor dem Haus spiegelte sich der
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