Der Kuss des Engels: Roman (German Edition)
auf die Jobsuche konzentrieren.« Na ja, nicht ganz. Und selbst das ist die Übertreibung des Jahrhunderts.
»Bonsoir, Monsieur Lapin. Bitte entschuldigen Sie, aber wohnt bei Ihnen vielleicht ein großer, gut aussehender Mann mit dunkelbraunen Haaren?« Sie stellte sich das verblüffte Gesicht eines bierbäuchigen Mittfünfzigers im Feinrippunterhemd vor, der in seiner Tür stand, während im Hintergrund der Fernseher lief. Der Mann würde entweder entgeistert Nein sagen oder irgendeine schmierige Bemerkung darüber machen, dass er sich gern als Ersatz zur Verfügung stellte.
Ich bin unfair. Nur weil das Haus heruntergekommen war, mussten die Bewohner keine Proleten sein. Paris war so teuer, dass man froh sein konnte, überhaupt eine bezahlbare Wohnung zu finden. Vielleicht führte Monsieur Moussa einen der kleinen, fast rund um die Uhr geöffneten Lebensmittelläden, und Madame Montard verkaufte Eintrittskarten im Panthéon, dem nahen Ruhmestempel der französischen Nation, in dessen Krypta herausragende Bürger Frankreichs bestattet lagen. Doch nicht zu wissen, was sie erwartete, machte Sophie kribbelig. Das Schlimmste war die Vorstellung, endlich tatsächlich vor Rafe zu stehen und kein Wort herauszubekommen. Die ganze Rue Descartes entlang suchte sie nach den richtigen Worten, nach etwas, das weder zu vorwurfsvoll noch zu bedingungslos begeistert klang. So wie er sich benommen hatte, wollte sie sich ihm nicht einfach an den Hals werfen. Aber wenn es für sein Verhalten triftige Gründe gab, waren Vorhaltungen auch unangemessen. Vergiss es!, sagte sie sich und bog in die Rue Thouin. Im entscheidenden Moment hab ich eh wieder alles …
Sie stutzte und prallte zurück, als sei sie gegen eine Wand gelaufen. Rafe, die Halbglatze und der Schmächtige standen vor dem Haus, in dem er am Vorabend verschwunden war. Was sollte sie jetzt tun? Er sah vage in ihre Richtung, war jedoch ins Gespräch vertieft und hatte sie bestimmt noch nicht entdeckt. Einfach umdrehen und abhauen, bis die Luft rein war? Aber woher sollte sie wissen, wann sich die Kerle verzogen hatten, wenn sie sie aus den Augen ließ? Ihre Gedanken rasten. Auf keinen Fall konnte sie so auffällig hier stehen bleiben.
Ohne konkreten Plan überquerte sie erst einmal die Straße und tat, als lese sie ein Plakat, das zu einem jüdischen Konzert in einer ehemaligen Kirche einlud. Doch wenn sie zu lange davor herumlungerte, würde es ebenfalls seltsam wirken. Unschlüssig schlenderte sie wieder auf die Rue Descartes zu, blieb an der Ecke erneut stehen und zögerte. Sollte sie in irgendeinen Laden gehen, wo sie von außen nicht so leicht gesehen wurde, oder sich in ein Café setzen? Aber alle Tische, die Blick auf Rafe geboten hätten, waren besetzt, und in einem Geschäft konnte sie sich nicht ewig aufhalten, ohne etwas zu kaufen.
Verstohlen sah sie über die Schulter. Vor dem Haus stand niemand mehr! Gerade als sie sich umdrehen wollte, um genauer hinzuschauen, ertönte eine vertraute Stimme hinter ihr.
»Bin ich einfach dein Typ, oder bist du aus einem anderen Grund hinter mir her?«
Sie fuhr herum und starrte ihn an. Die Augen, tiefblau wie das Mittelmeer bei Sonnenschein, funkelten belustigt. Sein Lächeln löste eine solche Woge der Wärme und des Glücks in ihr aus, dass sie ihre weichen Knie kaum bemerkte. Sie fühlte sich plötzlich gespalten, als ob ihr Körper und ihre Gefühle nicht mehr ihr gehörten, während der Verstand die Szene misstrauisch beobachtete und darauf hinwies, dass Rafe niemals fließend akzentfrei Französisch gesprochen hatte. Das ist er nicht. Doch wenn er es war, wie weit würde er dieses Spielchen treiben? »Ich … ähm … ich bin überhaupt nicht hinter dir her. Wie kommst du darauf?«
»Ach nein?« Er wirkte nur noch amüsierter. »Seltsam. Mir war, als hätte ich dich in letzter Zeit ziemlich oft gesehen.«
»Das … war dann wohl Zufall. Ich hab Freunde hier in der Gegend.«
»Und jetzt gerade warst du auch … auf dem Weg zu deinen Freunden?«
»Ja, mich hat nur das Plakat interessiert«, sagte sie schnell, zu schnell, und hätte sich am liebsten auf die Zunge gebissen. Wenn sie jetzt noch glaubwürdig bleiben wollte, musste sie gehen. Sie wandte sich ab und schlug auf unsicheren Beinen den Weg zum Place de la Contrescarpe ein.
Der Mann, der so unfassbar exakt wie Rafe aussah, hielt mühelos Schritt. »Du hörst dir Konzerte in Kirchen an?«
»Gelegentlich. Warum nicht?« Welche Freunde präsentiere ich
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