Der Kuss des Engels: Roman (German Edition)
fand sie einen Schalter an der Wand und drückte darauf. Eine von Schmutz und toten Fliegen milchige Deckenleuchte verbreitete gelbliches Licht, das in der Wand unter der ausgetretenen Holztreppe eine Reihe metallener Briefkästen zum Vorschein brachte. Dahinter zweigte eine Wohnungstür vom schmalen Gang ab, eine andere, solider beschaffene mochte in einen Hinterhof führen.
Sophie betrat den Flur und studierte auf den Briefkästen noch einmal die Namen. Montard, Lapin, Moussa, Ibrahim. Nichts, was ihr einen Hinweis gab, und schon gar nicht der hebräische Name, den Jean ihm angedichtet hatte. Natürlich nicht! Er ist untergetaucht. Wie konnte sie so dumm sein zu erwarten, dass er Rafael Wagner an seine Tür schrieb? Oder er hatte wie sie gar keine eigene Wohnung und lebte als Untermieter bei einem Herrn Moussa oder Lapin. Aber wie sollte sie das herausfinden?
Sie setzte sich auf die unterste Treppenstufe und überlegte. Auf keinen Fall konnte sie sich hier die Nacht um die Ohren schlagen und darauf warten, dass Rafe irgendwann aufstand. Es war der letzte Tag vor der Prüfung. Sollte sie an allen Wohnungstüren lauschen, ob noch jemand wach war, und einfach klingeln? Nein, nicht um diese Uhrzeit. Aber sie konnte es sich für morgen Abend vornehmen, sobald sie aus der Sprachschule zurück war. Ja, es war zwar peinlich und würde sie viel Überwindung kosten, aber genau das würde sie tun.
Das Licht brannte immer noch.
Der Duft aus der Küche ließ Sophies Magen knurren. Seit dem Mittagsimbiss mit Tereza und Francesca hatte sie nichts mehr gegessen und hätte einen Bären nicht nur verspeisen, sondern vor Hunger auch mit bloßen Händen erlegen können. Es musste an der Aufregung liegen. Wenn sie in heikle Situationen kam, konnte sie danach stets ungeahnte Mengen vertilgen. Auf dünnen Socken tappte sie zur Küche. Bei dem Lärm, den das Parkett dabei veranstaltete, musste sie keine Sorge haben, Madame Guimard einen Schreck zu versetzen. »Bonsoir, Madame! Riecht das lecker!«
»Na, ich will hoffen, dass es auch so schmeckt.« Madame Guimard hatte sich eine Schürze umgebunden und rührte in einem Topf. Der Küchentisch war für zwei gedeckt. Wasser, Rotwein und ein Korb mit Baguettescheiben standen bereit. »Wie war das Vorstellungsgespräch?«
Sophie seufzte. Der Termin in Madame Cléments Firma war ihr erst eingefallen, als sie nach der Mittagspause wieder im Unterricht saß und die Rede auf Bewerbungsschreiben kam. Es war zu spät gewesen, um vorher nach Hause zu fahren und etwas Passenderes, weniger Legeres anzuziehen. Doch das wollte sie Madame Guimard nicht erzählen, sonst hielt sie sie noch für unzuverlässig und undankbar. Dabei war es für gewöhnlich nicht ihre Art, so wichtige Dinge zu vergessen. Diese Geschichte mit Rafe brachte sie völlig durcheinander. Dass sie den Unterricht wieder früher hatte verlassen müssen, war vom Lehrpersonal sicher auch negativ vermerkt worden. Wenigstens war ein Vorstellungsgespräch eine wirklich gute Entschuldigung. »Ich weiß nicht«, gab sie zu. »Die Dame von der Personalabteilung war sehr freundlich zu mir. Aber ich glaube, sie hat mehr … Begeisterung für Wein und Delikatessen von mir erwartet.«
»Na«, schnappte Madame Guimard. »Du willst mir doch nicht weismachen, du hättest eine Verkostung abgelehnt.« Sie nahm einen der dampfenden Töpfe vom Herd und stellte ihn auf den Tisch.
Sophie lachte unsicher. Das Gesicht der alten Dame war so undeutbar, dass es schwerfiel, ihre Bemerkung als Scherz aufzufassen. »Nein, im Essen bin ich unschlagbar. Ich kam mir nur so unwissend vor, als sie von ihrer Angebotspalette schwärmte. Einige Sachen, die sie aufgezählt hat, kannte ich gar nicht. Wahrscheinlich muss man Gourmet sein, um dort zu arbeiten, oder ausgewiesener Weinkenner.« Dass ihre Gedanken manchmal abgeschweift waren, um die bevorstehende Befragung von Rafes Nachbarn durchzuspielen, erwähnte sie lieber nicht.
»Jetzt setz dich erst mal und iss!«, ordnete Madame Guimard an, als ob Sophie eine andere Idee haben könnte. Sie schöpfte eine cremige Suppe in die tiefen Teller. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass Madame Clément von jedem Angestellten im Büro verlangt, Sommelier zu sein.«
Sophie hatte ihre Zweifel, ließ sich aber nur zu gern auf ihrem Stuhl nieder, um sich dem Essen zu widmen.
»Wir finden schon eine Stelle für dich. Morgen ist dein letzter Tag in der Schule, nicht wahr?«
»Ja, dann habe ich mehr Zeit und kann mich ganz
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