Der Kuss des Engels: Roman (German Edition)
sich vor und streifte ihre Wange in einem angedeuteten Kuss. Eine Geste unter Freunden, doch er ließ sie einen Augenblick zu lang dauern, um unschuldig zu sein. Sein Haar kitzelte ihre Nase, sein warmer Atem strich über ihr Ohr bis zur Halsbeuge hinab. Sehnsüchtig sog sie den Duft seiner Haut ein. Sie erkannte ihn wieder, aber er war viel überwältigender, als sie ihn in Erinnerung hatte.
Als er sich wieder aufrichtete, sah er sie eine Sekunde lang fragend an, dann war der seltsame Ausdruck verschwunden. »Du siehst hinreißend aus«, sagte er, bevor sie sich genug gefangen hatte, um seinen Gruß zu erwidern. »Zu dumm, dass ich schon wieder nicht viel Zeit habe.«
Sophie war schlagartig ernüchtert. Sie verzog das Gesicht. »So viel zu deinem Sinn für Romantik.«
»Ich bedaure es wirklich«, versicherte er ernst. »Den Abend mit dir zu verbringen, wäre sehr viel angenehmer als das, was ich stattdessen tun muss.«
Leute verprügeln? Krumme Geschäfte? »Und das wäre?«
»Ich … bekomme Aufträge, die ich nicht ablehnen kann. Belassen wir es einfach dabei. Ich möchte dir etwas zeigen. Komm!« Mit einer Hand berührte er ihre Schulter, während er mit der anderen in die Verlängerung der Rue Thouin auf der anderen Straßenseite wies. Mechanisch folgte sie seiner Aufforderung. Kriminelle Aufträge? Von wem? Wie sehr schadete sie sich, wenn sie von der Polizei mit ihm gesehen wurde? Aber er klang, als würde er ihr nicht mehr sagen, solange sie sein Vertrauen nicht gewonnen hatte. Wieder fragte sie sich, ob er Rafe war oder nicht. Hätte er ihr nicht blind vertrauen müssen?
Seine Hand lag noch eine Weile an ihrer Schulter, als müsse er hinter ihrem Rücken mit seinem Arm eine Barriere bilden, damit sie nicht zurückblieb oder floh. Doch es war eine leichte, angenehme Berührung. Als er die Hand fortnahm und wieder mehr Distanz zwischen ihnen schuf, empfand sie Bedauern. Trotzdem musste sie riskieren, ihn noch weiter von sich zu entfernen. Wenigstens einen Versuch war sie sich noch schuldig. »Was sind das für Aufträge, Rafe?«
Er sah sie nicht einmal an, schüttelte nur den Kopf, als wäre sie ein Kind, über dessen Flausen man hinwegging, ohne zu antworten. Sie erreichten das Ende der Straße, die in die Rue du Cardinal Lemoine mündete. Rafe bog nach rechts ab, wo sich auch von dieser Seite aus bereits der Trubel um den Place de la Contrescarpe bemerkbar machte, und versäumte nicht, sie wiederum mit seiner Hand auf den Weg zu lenken, der ihm vorschwebte. Nachdenklich ließ sie sich von ihm über die Straße in eine ruhigere Gasse dirigieren. Sollte sie weiter auf die Wahrheit drängen? Doch sie hatte Angst, ihn zu sehr zu verärgern. Wenn er beschloss, sie wieder aus seinem neuen Leben zu verbannen, würde sie nie erfahren, was eigentlich gespielt wurde.
»Du bist Deutsche«, sagte er in die verblüffende Stille der Rue Rollin, die weder Bürgersteige noch die ansonsten allgegenwärtigen Geschäfte und Lokale aufwies. Mit ihrem hellen Pflaster und den durch wenige Öffnungen unterbrochenen Fassaden erinnerte sie Sophie an während der Mittagshitze ausgestorbene Gassen einer mediterranen Stadt. »Warum dann die englische Abkürzung für Raph… meinen früheren Namen?«
Sophie wusste nicht, worüber sie sich mehr wundern sollte, die Frage oder die Feststellung zuvor. »Mein Französisch ist wohl doch nicht so akzentfrei«, sagte sie, um Zeit zu gewinnen. War seine Frage ein Test? Aber was wollte er damit prüfen, wenn er tatsächlich Rafe war? Hatte er doch das Gedächtnis verloren und erinnerte sich nur an Bruchstücke, wie daran, dass sie keine Französin war? Dass er früher Rafael geheißen hatte? Hielt er sich selbst dennoch für einen Franzosen, einen Raphaël?
Er zuckte nur die Achseln. Die Rue Rollin neigte sich ein wenig bergab.
»Du hast mir erzählt, dass mal ein englischer Austauschschüler bei euch zu Gast war, der dich so nannte. Es gefiel dir so gut, endlich eine Abkürzung zu haben, die cooler als Rafi war, dass du seitdem darauf bestanden hast.«
»Ich habe dir das erzählt?« Er warf ihr einen undeutbaren Blick zu.
»Natürlich. Wer sonst?«
»Und dieser Rafe, also ich, heißt mit Nachnamen?«
»Wagner.«
»Interessant.«
Sie blieb stehen und starrte ihn an. »Interessant? Rafe, sag mir, was los ist! Du sprichst plötzlich wie ein gebürtiger Pariser, obwohl du das vor ein paar Monaten nicht einmal annähernd konntest. Glaubst du ernsthaft, du seiest Franzose?«
Er
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