Der Kuss des Engels: Roman (German Edition)
am liebsten im Boden versunken. Wenn nicht einmal er etwas bestellte … Aber sie konnte beim besten Willen nicht einmal die Vorstellung eines vollen Tellers ertragen. »Marie, würde es dir etwas ausmachen, mir nur ein Sorbet zu bringen?«, erkundigte sie sich zerknirscht.
»Kein Problem, chérie. Zitrone wie immer?«
»Ja, bitte.« Sie lächelte – verschwörerisch, wie sie hoffte. Jetzt hat sie mindestens ein Essen bei mir gut.
»Warum ausgerechnet Zitrone?«, wollte Rafe wissen, während sich Marie entfernte. War das eine Fangfrage, weil er wusste, dass sie in Wirklichkeit Stracciatella vorzog?
»Ich würde sehr viel lieber darüber reden, warum du nicht mehr Rafael heißt.«
Er bedachte sie mit einem undeutbaren Blick. »Ich aber nicht.«
Die unverblümte Weigerung brachte sie aus dem Konzept.
»Sehen wir uns morgen wieder?«, fragte er und beugte sich vor. Sein Gesicht war ihrem zu nah, um einen klaren Gedanken zu fassen.
»Ich … äh.« Sie lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück, um ihre Sprache wiederzufinden. »Wann und wo?«, fragte sie auf Deutsch. Ein letzter Versuch, ihn aus der Reserve zu locken.
Für eine Sekunde musterte er sie abschätzend, sah aber nicht im Mindesten verwirrt aus. »Pardon?«
»Quand et où?«, wiederholte sie.
Er lächelte, als hätte es den Moment zuvor nie gegeben. »Um sieben Uhr hier.«
W ährend des schriftlichen Teils der Prüfung schweiften Sophies Gedanken immer wieder ab. Sie sah Rafes Lächeln, hörte ihn fragen: »Sehen wir uns morgen wieder?« Und in ihrer Phantasie malte sie sich aus, was bei diesem neuerlichen Treffen geschehen würde. Sie stellte sich vor, wie er sie küsste, wie er ihr seine Liebe versicherte und alles sein würde, als hätte es die Beerdigung, die Trauer und das Versteckspiel nie gegeben. Es würde so leicht sein, wieder in seinen Armen zu liegen und die Welt zu vergessen.
Erschreckt ertappte sie sich dabei, aus dem Fenster ins Leere zu starren. Um sie herum kratzten Bleistifte hektisch über Papier. Tereza hing mit so rotem Kopf über ihren Blättern, dass man den Rauch förmlich aus ihrem Gehirn aufsteigen sah. Und ich träume vor mich hin, als hätte das alles nichts mit mir zu tun!
Mühsam drängte sie die aufgewühlten Gefühle zurück. Es war einfach dumm, sich ablenken zu lassen. Schließlich hatte sie schon die halbe Nacht mit diesen Gedanken wach gelegen, die sich ständig im Kreis drehten. Sie kam sich vor wie besessen.
»Wenn du dich mit ihm einlässt, bringt er Unheil und Verderben über dich«, hallte Jeans Warnung in ihr nach.
Kompletter Unsinn! Der Zorn durchschnitt den Nebel, der ihren Verstand umwölkte. Sie würde diese Prüfung nicht verhauen, und wenn sie es nur tat, um Jeans mittelalterlichen Aberglauben zu widerlegen.
Konzentriert arbeitete sie sich durch die Fragen, so schnell sie konnte, doch die Zeit reichte nicht mehr, um die Bögen vollständig durchzugehen. Sie war sich auch längst nicht sicher, ob sie alles richtig beantwortet hatte. Besonders im Handelsrecht merkte sie Lücken. Im mündlichen Teil lief es besser. Vor den Prüfern zu sitzen, war zu aufregend, um sich in Tagträumen zu verlieren. Sie verwickelten sie in eine Debatte über Umgangsformen bei Verhandlungen und fragten damit fast beiläufig ihr Wirtschaftsfranzösisch ab.
In der Mittagspause herrschte aufgekratzte Stimmung, die allmählich in Bedrückung kippte. Abschied lag in der Luft. Sophie tauschte mit Francesca und Tereza Adressen aus, obwohl sie nicht daran glaubte, dass sie in Kontakt bleiben würden. Dann folgte zum Abschluss eine Konversationsrunde, in der jeder erzählen sollte, wie ihm der Kurs gefallen hatte und welche Pläne er mit dem neuen Wissen hegte. Im Grunde war es Beschäftigungstherapie, um die Zeit zu überbrücken, bis die Prüfungsbögen ausgewertet waren. Nicht alle Teilnehmer hatten sich diesem Stress ausgesetzt, aber doch die meisten, und so warteten alle ungeduldig auf die Ergebnisse.
»Im Schriftlichen aber nur gerade noch so«, brummte Monsieur Olivier, als er Sophie ihr Zertifikat überreichte. Es war ihr egal. Die Last des schlechten Gewissens, das sie die ganze Woche geplagt hatte, weil sie so nachlässig gewesen war, fiel von ihr ab. Sie fühlte sich leicht, hüpfte mit der vor Freude überschäumenden Francesca um die lachende Tereza herum. Endlich war sie wieder frei! Keine Verpflichtungen mehr, außer jener gegenüber sich selbst: Bald einen Job zu finden, bevor ihre Ersparnisse aufgebraucht
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