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Der Kuss des Engels: Roman (German Edition)

Der Kuss des Engels: Roman (German Edition)

Titel: Der Kuss des Engels: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Lukas
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Kanals, der abrupt in ein überraschend weites, rundes Becken mündete. Der blanke, helle Boden blendete im ersten Moment, dann entdeckte sie die steinernen Ränge über der gemauerten Einfassung. Sie stand wie ein Gladiator mitten in einer Arena. Sogar ein paar Zuschauer hatten sich auf die Stufen verirrt, saßen einzeln oder zu zweit herum, lasen oder unterhielten sich – leise, denn die Akustik des gewaltigen Runds ließ selbst kleine Geräusche weithin erschallen.
    »Les Arènes de Lutèce«, stellte Rafe vor. Die Arenen Lutetias. »Du sagtest, dass du dir manchmal gern alte Gemäuer ansiehst. Älter als die Römerzeit geht es in Paris kaum.«
    Sophie lächelte. Wenn sie den Blick nicht zu weit hob, konnte sie die Mietskasernen ausblenden, die auf zwei Seiten so nah an die Ränge heranrückten, dass die Balkone als Logen durchgingen. Auf dem festgestampften Sand, Mauern und dunkle Eingänge im Rücken, fiel es ihr leicht, sich wie eine zum Tode Verurteilte zu fühlen, auf die die Menge herabblickte, um zu jubeln, wenn die hungrigen Löwen aus den Eingeweiden der Arena hervorsprangen. Ein Schauer überlief sie. Diese Stätte war echt. Direkt hier, wo sie stand, konnte vor zweitausend Jahren ein Mensch in seinem Blut gelegen haben, von einem Speer durchbohrt oder einer Pranke niedergerissen. Der Boden mochte nach so langer Zeit nicht mehr derselbe sein – sicher hatten Archäologen hier gegraben und städtische Bautrupps anschließend neuen Sand verteilt. Dennoch konnte sie es spüren.
    »Es gefällt dir nicht«, stellte Rafe fest, als hätte er sie gerade einem psychologischen Test unterzogen.
    »Doch! Ich finde es toll! Vor allem hätte ich das niemals mitten in Paris erwartet, einfach so zwischen den ganz gewöhnlichen Häusern.«
    Er lächelte, aber sie konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass er sich nicht mit ihr, sondern über sie amüsierte. Sie wollte seine Hand loslassen, doch er hielt sie fest, zog sie sogar näher zu sich heran. »Es stört mich nicht, dass du nur die halbe Wahrheit sagst«, behauptete er. »Ich sag dir ja auch nicht alles.« Er küsste sie, bevor sie seine Worte ganz begriffen hatte. Es war ein Abschiedskuss, einer, der mehr versprach. »Morgen Abend musst du mir mehr über diesen Rafe erzählen«, murmelte er an ihrem Ohr. »Ich will wissen, wer ich war.«

    Jean spürte sofort, dass mit dem Kerl etwas nicht stimmte. Der Mann im schwarzen Lederblouson bewegte sich mit eingezogenem Kopf zwischen den Regalen wie ein ungeübter Ladendieb, der fürchtete, jeden Moment geschnappt zu werden. Dunkelbraunes Haar umrahmte ein schmales Gesicht, das dennoch etwas schwammig wirkte. Der Blick der ebenfalls dunklen Augen irrte umher, wich Jeans aus und suchte abwechselnd die Buchrücken und die Umgebung ab. Trotzdem wusste Jean, dass der Typ ihn erkannt haben musste. Sie waren sich schon früher begegnet, wenn auch nur flüchtig. Er hatte ihn in der Kirche Abbé Gaillards gesehen, bei dem der Mann Hilfe gesucht hatte, weil er sich für besessen hielt. Doch der Priester war der Ansicht gewesen, dass es sich höchstens um einen milden Fall von Umsessenheit handelte, und hatte dazu geraten, regelmäßig zu beichten und die Messe zu besuchen. Entweder war der Mann dieser Empfehlung nicht gefolgt, oder Abbé Gaillard hatte sich geirrt, denn die Düsternis der Dämonen umschattete ihn für Jean nun so sichtbar wie ein schwarzer Nebelschleier. Was hatte der Kerl vor, das ihn so nervös machte?
    Als hätte er nichts bemerkt, blieb Jean auf der Leiter stehen und fuhr fort, einen Stapel antiquarischer Bücher alphabetisch einzusortieren. Er half stets gern im L’Occultisme aus, wenn er nichts Besseres zu tun hatte, und Alex’ Vater vermittelte ihm im Gegenzug den einen oder anderen Kunden. Durch die Lücken des Esoterikregals, das wie ein Raumteiler in den Gang ragte, behielt er den Besessenen im Auge. Der Mann blieb vor den Werken über Satanismus und Dämonologie stehen, doch seine Füße hielten deshalb längst nicht still. Er nahm ein Buch in die Hand, blätterte fahrig darin, stellte es zurück und griff nach einem anderen. Mehrmals wiederholte er dieses Spiel. Wollte er unauffällig wie ein beliebiger Kunde aussehen, oder suchte er etwas Bestimmtes? So wie er aussah, steuerte er direkt auf einen Anfall zu.
    Jean wog seine Möglichkeiten ab. Der Besessene befand sich zwischen ihm und seiner Ausrüstung, die er oben in der Bibliothek zurückgelassen hatte. Er würde nichts als seine Stimme

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