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Der Kuss des Engels: Roman (German Edition)

Der Kuss des Engels: Roman (German Edition)

Titel: Der Kuss des Engels: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Lukas
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haben und den Glauben an einen Gott, den er verfluchte. Er merkte, wie sich seine Muskeln bereits in der Erwartung spannten, einen Rasenden überwältigen zu müssen, dem die Dämonen übermenschliche Kräfte verliehen.
    Der junge Mann hatte ein weiteres Buch aus dem Regal gezogen und schirmte es mit seinem Körper gegen die Blicke anderer Kunden ab. Jean runzelte die Brauen. Sollte er etwa doch nur einen gewöhnlichen Ladendieb vor sich haben? Irgendetwas tat er, aber Jean konnte nicht sehen, was. Dann schob der Fremde den dünnen Band wieder ins Regal und verließ L’Occultisme so verhuscht, wie er den Laden betreten hatte.
    Misstrauisch stieg Jean von der Leiter. Was zum Teufel hat er da getrieben? Er ging hinüber und griff nach dem ungewöhnlich schmalen Hardcoverband, der schon älter und gebraucht aussah. Das Buch Henoch. Nachdenklich betrachtete er die apokryphe Schrift, die zwar zur äthiopischen Bibel gehörte, doch nie Einzug in den Kanon der katholischen Kirche gehalten hatte. Für Dämonenbeschwörer, Schwarzmagier und ähnlich verblendete Gestalten war sie eine ebenso ergiebige Quelle wie für Theologen und unabhängige Bibelforscher, die eine bestimmte, seltsam beiläufige Stelle im 1. Buch Moses deuten wollten. Dass jemand, der sich mit Dämonologie beschäftigte, sie früher oder später zur Hand nahm, war zu erwarten. Jean wollte darin blättern, als auch schon ein Spalt aufklaffte. Zwischen den Seiten steckte ein Zettel – leer. Er drehte ihn um, doch auch auf der Rückseite des zerknitterten, vielleicht verstohlen aus dem Ärmel oder der Jackentasche gezerrten Papiers war nichts zu entdecken. Eine verschlüsselte Botschaft? Aber an wen? Sollte er das Buch zurückstellen und beobachten, ob jemand kam und den Zettel abholte? Nein, er musste wissen, was darauf stand.
    Er holte seinen Mantel, steckte das Buch ein und machte sich auf den Weg nach Hause. »Alex«, rief er seinem Freund zum Abschied zu, »falls jemand nach dem Buch Henoch fragt, merk dir, wer es war!«

S   ophie nippte vorsichtig am Café au Lait und tippte nervös mit dem Kugelschreiber auf einer Stellenanzeige herum. Sollte sie sich darauf bewerben oder nicht? Von »technischen Innovationen für den Automotive-Bereich« verstand sie noch weniger als von französischen Delikatessen, aber vor allem hatte sie noch viel weniger Lust, sich auf diesem Gebiet Wissen anzueignen.
    Auf den ersten Seiten war sie noch optimistisch und voller Elan gewesen. Sie hatte alles angestrichen, was entfernt infrage kam, vom Praktikum bis zur Vollzeitstelle, von eher lokal agierenden Kleinfirmen bis zu internationalen Konzernen. Mittlerweile hatte sie sich durch drei der Zeitungen gearbeitet, die sie am Morgen gekauft hatte, und konnte sich kaum noch konzentrieren. Wenn sie an den riesigen Stapel Bewerbungen dachte, den sie für diese vielen Jobangebote schreiben musste, grauste ihr schon jetzt. Jede Personalabteilung erwartete, dass sie sich über die jeweilige Firma informierte und dann überzeugend begründete, warum sie ausgerechnet dort arbeiten wollte – obwohl doch beiden Seiten bewusst war, dass sie sich überall bewarb, wo eine Stelle infrage kam. Demonstrativ strich sie die letzte Anzeige durch, anstatt sie einzukreisen, und stieß dabei gereizt die Luft aus.
    »Du brauchst eine Pause«, befand Madame Guimard von der anderen Seite des Küchentischs, wo sie in den restlichen Teilen der Zeitungen gelesen hatte. »Komm mal mit!«
    Froh über die Unterbrechung, stellte Sophie ihre halb leere Tasse ab und ließ den Stift fallen. Der Tag würde noch anstrengend genug werden, denn sie hatte sich vorgenommen, später in ein Internetcafé zu gehen und sich auch in den Online-Jobbörsen umzusehen. Und danach stand eine weitere Verabredung mit diesem völlig veränderten und dennoch vertrauten Rafe an. Sie fieberte ihr entgegen, aber es war ihr auch ein bisschen unheimlich, wie sie auf ihn reagierte. Er hatte schon immer eine verheerende Wirkung auf ihren Verstand gehabt, aber wie sehr sie gestern Wachs in seinen Händen gewesen war …  Er hätte mir sagen können, dass er mich nach Strich und Faden belügt, und ich blöde Gans wäre immer noch unter seinem Kuss dahingeschmolzen.
    Sie schob den Gedanken beiseite, während sie Madame Guimard über den Flur zu dem Zimmer folgte, in das sie bisher nicht einmal einen Blick geworfen hatte. Neugierig trat sie ein und sah sich um. Sogleich wurde ihr klar, woher sie das surrende Geräusch gekannt hatte.

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