Der Kuss des Engels: Roman (German Edition)
waren.
»Madame Guimard?«, rief sie, als sie nach Hause kam. »Ich hab’s geschafft!«
»Oh, das ist ja wunderbar, Sophie«, tönte die Antwort aus dem Badezimmer. Madame Guimard stand vor dem Spiegel und gab ihrer Frisur den letzten Schliff. Sie trug eines ihrer zeitlosen Kostüme und eine cremefarbene Bluse aus einem seidig glänzenden Stoff. »Das willst du sicher angemessen feiern.«
Freitagabend, natürlich! Sie geht ins Le Procope. Wenn Rafe nicht gewesen wäre, hätte sie nichts dagegen gehabt, dort stilvoll mit einem Glas Champagner auf ihren Erfolg anzustoßen. »Ja, das muss wirklich gefeiert werden. Deshalb bin ich um sieben am Place de la Contrescarpe verabredet.«
Falls Madame Guimard enttäuscht war, ließ sie es sich nicht anmerken. »Triffst du Freunde aus deinem Kurs?«
»Nein, ich … habe schon ein paar Pariser kennengelernt, die sehr nett sind.«
»Das freut mich.« Madame Guimard legte Parfum auf. »Die Ausländer werden sicher bald alle abgereist sein, da ist es gut, wenn du einheimische Freunde hast.«
»Madame Cléments Firma hat sich nicht zufällig schon gemeldet?«, erkundigte sich Sophie, um das Thema zu wechseln, bevor Fragen kamen, die sie nicht beantworten wollte.
»Nein, aber mach dir keine Sorgen, chérie.« Die alte Dame warf einen letzten prüfenden Blick in den Spiegel, bevor sie die Lampe darüber ausknipste. »Ich hätte vielleicht ein Angebot für dich, bis du einen richtigen Job gefunden hast.«
Verwundert folgte Sophie ihr aus dem Bad.
»Wir reden morgen darüber.« Madame Guimard deutete auf die große, laut tickende Standuhr. »Jetzt sind wir spät dran.«
Sophie erschrak. Wenn sie sich noch umziehen und frisch machen wollte, musste sie sich ranhalten. Sie hatte nicht vor, wieder in Jeans und Turnschuhen zu erscheinen. Für ein Rendezvous – wie seltsam es auch sein mochte – an einem lauen Sommerabend in Paris war ein Kleid sehr viel passender. Man musste nicht viele Filme gesehen haben, um zumindest das über diese Stadt zu wissen.
Sie rief Madame Guimard noch ein »Bonne soirée!« zu, stürmte zuerst in ihr Zimmer, dann ins Bad und schaffte es, in rekordverdächtigen fünfzehn Minuten fertig zu sein. Die Nachbarn glaubten vermutlich an ein Erdbeben, als sie auf ihren Pumps die Treppe hinunterpolterte. Zuerst lief sie so schnell, dass sie außer Atem geriet, als der Weg anstieg. Würde bewahren!, ermahnte sie sich. Wie würde es aussehen, wenn sie abgehetzt auf den Platz stolperte? Nach allem, was Rafe ihr zugemutet hatte, war ein bisschen Verspätung das Mindeste, was ihr zustand.
Sie zwang sich, die Rue Descartes langsamer entlangzugehen, um ihren Puls zu beruhigen. Falls es überhaupt möglich war, hatten sich im Lauf der Woche noch mehr Touristen eingefunden und verstopften die Straße, weil sie vor jedem Lokal stehen blieben, um hineinzuspähen oder die Tafeln mit den Tagesmenüs zu studieren. Aus den vielen umliegenden Fakultäten strömten wie jeden Abend Studenten herbei, und der Lärmpegel erreichte ebenso neue Höchststände wie das Sprachengewirr, dem die Pariser seit Neuestem mit einem Boom von Englischkursen begegneten. Überall in den Gängen und Zügen der Métro hing Werbung aus, die dazu aufforderte, die englische Sprache nicht länger zu malträtieren. Sophie hätte sich gewünscht, die vielen Ausländer hätten sich mehr Mühe gegeben, die Sprache der Einheimischen nicht zu misshandeln. Doch immer wieder hörte sie Leute mit den grausigsten Akzenten Bestellungen aufgeben.
Als sie eine Gruppe Japaner umgehen musste, die verunsichert die Abbildung in ihrem Reiseführer mit der Fassade eines gehobeneren Restaurants verglichen, erregte etwas ihre Aufmerksamkeit. Sie reckte sich und versuchte, einen weiteren Blick zwischen den Menschen hindurch zu erhaschen. Tatsächlich. Weißes T-Shirt, Jeans, wie schon an den Tagen zuvor. Rafe stand an der Ecke zur Rue Thouin und wartete auf sie. Woher wusste er, aus welcher Richtung sie kommen würde? Sie hatte ihm nicht gesagt, wo sie wohnte, und er war schon gegangen, bevor sie ihr Eis gegessen hatte. Ob er es nun erraten hatte oder nicht, er hätte sie jedenfalls verpassen können, wenn sie sich dem Place de la Contrescarpe aus irgendeinem Grund von einer anderen Seite genähert und vergeblich nach ihm Ausschau gehalten hätte. Die Vorstellung dämpfte ihre Freude, ihn früher als erwartet zu sehen.
Als er sie entdeckte, lächelte er, und ihr Ärger verrauchte. »Bonsoir, Sophie.« Er beugte
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