Der Kuss des Greifen (German Edition)
gelernt, aus tiefstem Herzen nachtragend zu sein, und eines Tages werde ich dich daran erinnern. Eines Tages.
Dann kam Bewegung in Dragos, und er sagte: »Das ist eine alberne Diskussion. Rune, natürlich kannst du nach New York heimkehren und deine Gefährtin mitbringen.« Er schenkte Carling sein Buschmesserlächeln. »Wir würden uns freuen, sie im Schoß der Familie willkommen zu heißen.«
»Darauf würde ich wetten«, sagte sie, und ihr Lächeln war mindestens so messerscharf und strahlend wie seines.
Der Streit, der darüber ausbrach, war lautstärker und leidenschaftlicher als je zuvor. Wie sich herausstellte, wurde diese Option von niemandem begrüßt.
Der Morgenhimmel hellte sich auf. Gelbe und blassrosa Streifen zogen sich über den dunkelvioletten Himmel. Bald würde die Sonne den Horizont erklimmen. Rune fasste Carling an den Schultern und drehte sie zu sich herum. Als er ihr das kurze, stufige Haar aus dem Gesicht strich, sah er so müde aus, wie sie sich fühlte. Ich weiß nicht, ob uns wirklich jemand daran hindern könnte, in New York zu leben , sagte er. Aber Dragos steht im Moment unter ziemlich hohem Druck.
So überzeugt sie auch vor dem Tribunal gesprochen hatten, wussten sie doch immer noch nicht, ob sie wirklich eine Lösung gefunden hatten. Sie sprach es nicht aus, sondern zog es vor, ebenso hoffnungsvoll in die Zukunft zu sehen wie er. Möchtest du nach New York zurückkehren?
Er holte tief Luft und schüttelte den Kopf. Nein. Ich habe ihm unser letztes Gespräch nicht verziehen. Außerdem glaube ich, dass er im Augenblick nur die andern ärgern will. Wahrscheinlich würde er nicht zulassen, dass ich mit dir als Gefährtin zurückkehre und meine Pflichten als sein Erster Mann wieder aufnehme. Er würde sich immer fragen, ob es meine Motive verzerrt haben könnte, dich in meinem Leben zu haben, und das zu Recht. Vielleicht können er und ich unsere Freundschaft mit der Zeit wieder aufbauen, aber ich glaube, im Augenblick ist es unsere einzige Möglichkeit, irgendwo anders ganz von vorn anzufangen.
Carling lächelte ihn an. Was in aller Welt werden wir nur mit uns anfangen? Die Vorstellung des Unbekannten war berauschend und beängstigend. Da war er wieder, ihr guter Freund, der Spukhaus-Achterbahn-Mix.
Runes Gesicht hellte sich auf. Ich habe keine Ahnung. Es wird ein Spaß werden, es herauszufinden.
Solange sie nur Zeit gewinnen konnten.
Sie drückte seine Hände. Es gibt ein paar Leute, denen ich noch ein paar Dinge zu sagen habe.
Sie konnte sehen, wie er mit sich rang. Zu viele mächtige und gefährliche Wesen waren in der Nähe, und sie waren zu nah an den Rand des Abgrunds geraten, als dass er sie so einfach hätte loslassen können. Aber offenbar wusste er, dass es keine gute Idee wäre, sie zu fest halten zu wollen, denn er löste seinen Griff. In Ordnung.
Sie wandte sich ab und ging zu ihren missratenen Kindern hinüber, zu Rhoswen und dem König der Nachtwesen. Die beiden starrten sie an, als Carling näher kam und sie die Veränderungen an ihrer Frisur und ihrer Kleidung bemerkten. Mit leiser Stimme fragte Julian: »Hast du es wirklich geschafft? Hast du ein Heilmittel gefunden?«
Carling ließ den Blick ein letztes Mal über Julians grobe, intelligente Gesichtszüge gleiten. Früher, vor langer Zeit, waren sie enge Freunde gewesen und dann für viel längere Zeit politische Partner. Wie Rune war er ein Alphamännchen, geboren, um Befehle zu erteilen. Vielleicht hatte sie einfach zu lange über ihn geherrscht. Viellicht könnten sie Frieden schließen, wenn ihr Zorn verflogen war, wie bei Rune und Dragos. Aber sie würde nicht darauf setzen.
»Diese Frage wird dich womöglich die nächsten tausend Jahre lang verfolgen«, sagte sie. »Aber du wirst dein Seelenheil selbst finden müssen.«
Dann wandte sie ihre Aufmerksamkeit Rhoswen zu, die unter ihrem ruhigen Blick immer rastloser wurde. »Du bist direkt zu Julian gelaufen, nicht wahr?«, raunte sie, gerade laut genug, dass Rhoswen und Julian es hören konnten, aber niemand sonst. »Was hast du ihm erzählt? Wie instabil ich geworden bin? Wie gefährlich ich war? Wie unsinnig es war, dass ich meine loyalste und ergebenste Dienerin weggeschickt und mich an diesen manipulativen Wyr gehängt habe? Ich weiß, was du ihm erzählt hast. Du hast ihm alles erzählt, was er hören wollte, um zu rechtfertigen, was er getan hat. Und dann hast du das Gleiche dem Tribunal erzählt.«
Rhoswen richtete sich auf. Sie hielt den Kopf
Weitere Kostenlose Bücher