Der Kuss des Greifen (German Edition)
der beiden Häuser bis in die frühen Morgenstunden, und der Klang leiser Gespräche wehte durch die offenen Fenster. Gelegentlich aßen Soren und Sidhiel mit Rune zu Abend, während Carling ihnen bei einem Glas Wein Gesellschaft leistete, aber meistens blieben die Ratsmitglieder unter sich.
»Das ist viel besser als mein Exil auf der Insel«, sagte Carling zu Rune. Sie saßen im Wohnbereich des Hauptschlafzimmers der Villa. Carling hatte sich mit einigen Büchern an einem Ende der Couch zusammengerollt und gerade ein einstündiges Telefonat mit Seremela beendet.
»Zur Hölle, ja«, sagte Rune träge. Er trug abgeschnittene Jeans und sonst nichts, seine langen, muskulösen Beine und die nackten Füße hatte er am anderen Ende der Couch abgestützt. Die Sonne bekam ihm gut. Schon jetzt hatte er am ganzen Körper einen tieferen Braunton angenommen. Er hatte sich auf dem Rest der Couch ausgestreckt und den Kopf auf ihren Oberschenkel gelegt, während er durch die Kanäle zappte und auf dem Sechsundfünfzig-Zoll-Flachbildfernseher nach Filmen suchte. »Ich habe ESPN und SPIKE TV , Baby. Und ich zeichne Die Klapperschlange und danach Flucht aus L. A. auf. Snake Plissken ist mein Mann. Booyah!«
Carling machte sich auf ihrem neuen iPad einen Vermerk, bei Google nach einer Definition für Booyah zu suchen. Sie sagte: »Ich hatte einen ganz anderen Grund im Kopf als Kabelfernsehen.«
»Ich weiß, was du im Kopf hattest«, sagte Rune. Er streckte den Arm hinter den Kopf, um ihre Hand zu ergreifen, und drückte ihre Finger an seine Lippen.
Sie sprachen täglich mit Seremela. Carling hatte der Meduse ihre Forschungsunterlagen per FedEx geschickt, und Seremela nahm alles noch einmal genau unter die Lupe. Vielleicht fand sich darin ja noch etwas Nützliches. Die Meduse war geradezu besessen von dem medizinischen Rätsel, das sie ihr aufgegeben hatten, und die Telefonate waren mit ihren begeisterten Fragen gespickt. Gerade hatte sie Urlaub eingereicht und wollte für einen ausgedehnten Besuch vorbeikommen.
»Ich denke, wir sollten Seremela von ihrer Stelle als Leichenbeschauerin im Cook-County-Leichenschauhaus abwerben«, bemerkte Carling. Sie sah aus dem Fenster, wo das Mondlicht auf dem Meer glitzerte. »Sie ist dort unterfordert. Bestimmt wäre sie viel glücklicher, wenn sie ihre ganze Aufmerksamkeit der Forschung widmen könnte.«
»Das halte ich für eine ziemlich geile Idee«, gab Rune zurück. »Wir sollten ihr ein eigenes Labor einrichten. Ich hätte sie auch lieber hier in der Nähe. Vielleicht möchte sie ja nach Florida ziehen?«
»Das werden wir sie fragen müssen, wenn sie hier ist«, sagte sie lächelnd.
Die Villa in Key Largo war eine vorübergehende Lösung zu Quarantänezwecken, aber das warme Klima gefiel ihnen beiden so gut, dass sie bereits davon sprachen, sich irgendwo in Florida niederzulassen. Nur auf einen Ort hatten sie sich noch nicht geeinigt. Vielleicht Miami Beach. Es lag am Meer, war an einen Ballungsraum angebunden und außerdem nur achtzig Kilometer von einem 2900 Quadratkilometer großen geschützten Gebiet der Everglades entfernt, was für einen aktiven Wyr durchaus ein attraktives Argument war. Nun galt es noch einen Ort zum Wohnen zu finden – oder zu bauen –, der ausreichend Platz und Schutz vor der Sonne bot.
Denn zwei Wochen waren vergangen, und Carling hatte keinen weiteren Schub gehabt.
Auf Seremelas Rat hin hatten sie sehr vorsichtig angefangen. Kleine, mit Wasser verdünnte Mengen in vielen, kleinen Schlucken. Beim ersten Mal hatte sich Rune in den Finger geschnitten und ein paar Tropfen Blut in ein kleines Glas Wein fallen lassen. Nachdem sie so lange nichts als Wein getrunken hatte, hofften sie, dass sich Carling auf diese Weise leichter wieder an das Trinken von Blut gewöhnen würde.
Es war ihr unerwartet schwergefallen, einen Schluck des mit Blut vermischten Weins zu trinken. Beinahe hätte es sie in die Knie gezwungen. Sie hatte erwartet, dass sein Blut atemberaubend schmecken würde, so brennend und intensiv wie seltener Likör. Doch es lag viel mehr magische Energie darin, als sie sich vorgestellt hatte.
Von diesem einen Schluck fühlte sie sich betrunken und schwindelig. Sie lehnte sich gegen den Küchentresen und rang nach Luft. Rune nahm ihr das Weinglas aus der Hand, als es sich zur Seite neigte. Besorgt betrachtete er sie. »Wie fühlst du dich?«, fragte er und legte einen Arm um ihre Taille. »Ist dir schlecht?«
Sie schüttelte den Kopf, und die Welt
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