Der Kuss des Greifen (German Edition)

Schulter zu legen. Während er den Kaftan an ihrem Rücken hinunterschob, streichelte er ihren Nacken.
    Sie spürte, wie er heftig ausatmete. Seine Finger auf ihrer nackten Haut begannen zu zittern. Sie hob den Kopf und starrte auf sein elegantes Profil. Sie war ihm nah genug, um zu sehen, wie sich die feinen Linien um seine Augen vertieften, und sie spürte die Bewegung seines Kehlkopfs, als er schwer schluckte.
    »Was ist los?«, fragte sie.
    Carling reckte den Hals, um über ihre Schulter blicken zu können, sah aber nur die Enden der langen, weißen, gebogenen Narben. Wie zwei Schlangen, die sich um einen Stab wanden, kreuzten sie ihr Rückgrat. Seit Tausenden von Jahren lebte sie mit diesen Narben. Sie kannte sie so gut. Niemals würde sie die Nacht vergessen, in der sie ihr zugefügt worden waren, und auch nicht, wie Rune ins Zimmer geplatzt war, um zu verhindern, dass ein dritter Hieb sie traf …
    Sie versteifte sich. Nein. Das war nicht vor Tausenden von Jahren geschehen. Das lag erst Minuten zurück. Was hatte sich vor Runes Eingreifen ereignet? Was war ihr damals, vor viereinhalbtausend Jahren, wirklich zugestoßen?
    »Bevor du gekommen bist, ist irgendetwas anderes passiert«, flüsterte sie. »Aber ich erinnere mich nicht mehr. Ich weiß nicht, was ich ursprünglich erlebt habe.«
    Bevor Rune ins Zimmer gestürmt war, hatte der Priester zornig über ihr gestanden. Er hatte die Peitsche ausgeschüttelt und hätte sie erneut geschlagen, wenn Rune ihn nicht mit einem brutalen Schlag getötet hätte.
    Runes Augen waren dunkel geworden. Mit tiefer Stimme sagte er: »Ich weiß nur, dass du vor ein paar Wochen im Adriyel River geschwommen bist, und als du herauskamst, hattest du nicht nur zwei Peitschenmale auf dem Rücken. Dein ganzer Körper war mit Narben überzogen.«
    Sie erinnerte sich gut. Sie war aus dem Wasser gestiegen, während Niniane und Rune am Ufer gewartet hatten. Wie gelbe Diamanten hatte das Feuer in Runes Augen gefunkelt, als er sie angestarrt hatte. Sein hübsches Gesicht war zu einer gemeißelten Maske erstarrt, und jeder Muskel an seinem Körper hatte sich abgezeichnet wie ein Relief, als wäre er von einem klassischen Bildhauer erschaffen worden.
    »Du veränderst mich?«, fragte sie.
    »Das, was wir gemeinsam tun, muss anscheinend irgendwie etwas verändern. Denn ich schwöre bei allen Göttern, Carling: So hat dein Rücken vorher nicht ausgesehen.«
    Entsetzt starrte sie ihn an.
    Als sie ihn mit einem Schirokko verglichen hatte, war ihr nicht ansatzweise bewusst gewesen, wie recht sie damit hatte. Ein Schirokko war eine Art Orkan, der aus der Sahara kam. In Ägypten wurde dieser heiße Wüstenwind Chamsin genannt und konnte Geschwindigkeiten von bis zu 135 Stundenkilometern erreichen. Sie erinnerte sich an das nächtliche Heulen des Winds, ein gewaltiges, unirdisches, unmenschliches Geräusch. Der Wind zerrte einem das Fleisch von den Knochen und formte das Land buchstäblich neu.
    Zuerst hatte sie geglaubt, sie würde ihr Leben verlieren. Dann hatte sie Angst bekommen, alles andere zu verlieren. Ihre magische Energie, ihre geistige Gesundheit. Ihre Würde.
    Sie hatte nicht geahnt, dass sie noch mehr zu verlieren hatte, dass sich Teile aus ihrer Vergangenheit lösen könnten wie Fleisch von einem Knochen. Die Veränderung war überwältigender und machtvoller als alles, was sie bisher erlebt hatte, und sie selbst hatte keinen Unterschied gespürt.
    Sie hatte nicht gewusst, dass sie Gefahr lief, sich selbst zu verlieren.

9
    »Geh weg!« Sie stieß ihn zurück und sprang aus ihrem Stuhl.
    Mit einem Satz kam Rune auf die Füße und trat mit ausgestreckter Hand auf sie zu. »Nicht, solange du so panisch bist.«
    Sie wirbelte hinter den Stuhl, hob ihn hoch und schleuderte ihn nach Rune. »Raus mit dir, verdammte Scheiße!«
    Mit einem Hieb schlug er den Stuhl zur Seite. In seinen Zügen lag Entschlossenheit. »Denk doch nur eine Minute nach, Carling. Du hattest gerade einen Schub. Bis zum nächsten bleiben dir mindestens ein paar Stunden, vielleicht sogar ein Tag oder länger. Wir haben Zeit, darüber zu sprechen und rauszufinden, was es bedeutet …«
    Ungläubig starrte sie ihn an. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sich zuletzt jemand ihrem direkten Befehl widersetzt hatte.
    »Also gut, gottverdammt!«, zischte sie. »Ich gehe.«
    Sie schaffte es bis zur Tür, bevor sie seine Hand auf ihrer Schulter spürte. Es war zu viel. Sie stieß ihn von sich und spie ein Wort voller Magie aus,