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Der Kuss des Greifen (German Edition)

Der Kuss des Greifen (German Edition)

Titel: Der Kuss des Greifen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thea Harrison
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moderner Umgangssprache Witzchen riss, lebte er viel mehr im Hier und Jetzt als sie. Das Gewicht der vorüberziehenden Jahre belastete ihn nicht. Er besaß keine Sterblichkeit.
    Nicht den kleinsten Kratzer hatte Rune ihr zugefügt, als er sie im freien Fall aufgefangen und zu Boden gedrückt hatte. Sie dachte daran zurück, wie er sanft ihre Stirn geküsst hatte, bevor er ihr kindliches Ich zurückgelassen hatte, und wieder füllten sich Carlings Augen mit brennenden Tränen.
    »Ich habe dir erlaubt, in meine Vergangenheit zu gehen«, flüsterte sie. »Ich habe dir nicht erlaubt, mich zu verändern.«
    Der Greif neigte den Kopf, und irgendwie brachte es dieser gigantische, grimmige Adler fertig, demütig und verärgert auszusehen. »Ich habe die Peitsche gehört«, gestand er mit schmerzvoller Stimme. »Und ich habe dich schreien hören – da konnte ich nicht mehr klar denken. Ich wusste nur, dass ich nicht zulassen konnte, dass diese Peitsche dich noch einmal trifft.«
    Die Tränen liefen über und rollten über ihre Schläfen, bevor sie in ihr Haar sickerten. Wieder betrachtete sie seine enormen Pranken. Sie hatte nicht gesehen, wie er den Priester getötet hatte, der sie ausgepeitscht hatte, aber sie hatte später seine Leiche gesehen. Die übel zugerichteten Überreste hatten in Fetzen gehangen, die Knochen waren geborsten gewesen. Sie streckte die Hand aus, um eine der Pranken zu berühren. »Also gut«, sagte sie mit unsicherer Stimme. »Gut. Aber ich erinnere mich nicht mehr daran, was geschehen ist, bevor du es getan hast.«
    Seufzend hob Rune die riesigen Schwingen, um sie in eine bequemere Position zu bringen. Dann erst hob er den Kopf so weit, dass er sie ansehen konnte. »Ich glaube nicht, dass es in meiner Macht steht, dich zu verändern«, sagte er, und seine Stimme klang noch immer ruhig und vorsichtig. »Nicht dich , nicht deine Seele, deinen Geist oder deinen Ba , wenn du so willst. Was der Rest zu bedeuten hat, wissen wir noch nicht.«
    Carling gab dem Impuls nach, sich zu ihm umzudrehen und ihre Finger in seinem Brustfell zu vergraben. Das Fell war so dicht und weich, wie es aussah. Die weiße Haut darunter spannte sich wie ein eng anliegender Mantel über seinen Muskeln, die so gewaltig waren, dass die Berührung sie ebenso verwirrte wie ihr Anblick. Sie ließ die Hand durch sein Fell gleiten, bis sie zu der Stelle gelangte, an der es dem prächtigen Gefieder aus weichen, kleinen Federn wich. Die Federn wurden länger und dunkler und bedeckten als glatte, glänzende Bronzekappe Kopf und Hals.
    Als sie ihn streichelte, begann er zu schnurren. Das Geräusch vibrierte durch ihren Körper. Behutsam strich sie mit ihren Fingernägeln durch sein dickes Fell und die weiche Überfülle an Federn. Während Carling ihn beobachtete, lag er unbefangen in der Pose, die in der Heraldik als liegender Löwe bekannt war – entspannt, aber wachsam.
    Wie konnte er glauben, es stünde nicht in seiner Macht, sie zu verändern? Was da unter ihren Fingerspitzen vibrierte, war unbeschreiblich. Ihr wurde bewusst, wie viel von Runes Persönlichkeit seinem katzenhaften Spieltrieb entsprang. In seiner Greifengestalt offenbarte er etwas wesentlich Älteres, etwas, das jenseits der menschlichen Erkenntnis lag.
    Wie war es möglich, dass er aus zwei Kreaturen bestand, die zu einer verschmolzen waren? Er hatte gesagt, er habe eine Affinität zu Übergängen und Schwellenorten. Sie hatte dazu genickt und geglaubt, es zu verstehen, aber als sie ihn jetzt anstarrte, verstand sie überhaupt nichts mehr.
    Die magische Energie der Schwellenorte toste in seinem Körper. Ihrer Definition nach war sie eine umgestaltende Kraft voll Spannung und dynamischer Bewegung. Doch statt von der Spannung zerrissen zu werden, kontrollierte er sie. Die transformative Kraft befand sich im felsenfesten Griff eines unsterblichen Geists, und die magische Energie, die dazu erforderlich war, überstieg ihre Vorstellungskraft. Es erschien ihr wie die absolute Definition der Unmöglichkeit.
    Ein geheimnisvolles magisches Rätsel.
    Diese Erkenntnis brachte ihr eine Erleuchtung.
    »Das Geheimnis ist in deine Gestalt eingeschrieben«, sagte sie. »Dein Körper ist die Rune.«
    Sein gewaltiger Kopf neigte sich. In dem Blick, mit dem er sie bedachte, lag der Frieden der hellen Sonne und des endlosen Himmels.
    Staunend sagte sie: »Das Rätsel bist du.«
    »Natürlich bin ich das«, sagte der Greif.
    Sie kam auf die Knie, und da er gewillt schien, sich ihre

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