Der Kuss des Greifen (German Edition)
die ihre Welt wieder sicher gemacht hatte.
»Ich weiß nicht genau, wann oder wo, aber eines kann ich dir versprechen, mein Darling. Wir werden uns wiedersehen. Wärst du damit einverstanden?«, fragte er.
Sie nickte, ihr verschmiertes Gesicht war zur Hälfte von den glatten, dunklen Strähnen ihres seidigen Haars verdeckt. Einem Impuls folgend, beugte er sich vor und drückte seine Lippen auf ihre Stirn. Ihre Finger schlossen sich fester um seine Hand, dann ließen sie ihn los.
Er stand auf und sah sich um, während er sich streckte. Bei allen Göttern. Die ganze Szene war so intensiv, so real, dass er sich völlig darin verloren hatte.
Konnte das eine Illusion oder Halluzination sein? Konnte es etwas anderes sein, etwas Realeres? War es möglich, dass er die Vergangenheit irgendwie beeinflussen konnte? Er verspürte den Impuls, zu lachen und die Idee fortzuwischen. Dann fiel sein Blick auf die immer noch blutenden Peitschenmale auf Khepris Rücken, und der Impuls verging.
Unter den aufmerksamen Blicken des Priesters wandte sich Rune um und starrte den Mann brütend an. Im Alten Testament hatte Gideon ein Vlies ausgelegt, um ein Zeichen für den Willen Gottes zu erbitten.
Rune zuckte die Schultern. Er war zwar kein Christ und nicht vom Willen Gottes abhängig, aber um ein Zeichen zu bitten, schien ihm eine verteufelt gute Idee zu sein. Er wandte Khepri und ihren Pflegerinnen den Rücken zu, kramte in seiner Jeanstasche und holte sein Taschenmesser heraus. Es war ein durch und durch modernes, robustes Schweizer Armeemesser. Er fragte sich, wie es wohl grob gerechnet viertausendfünfhundert Jahre überdauern würde.
»Wie heißt du?«, fragte er den Priester.
»Akil, mein Herr.«
»Wer ist dein König, Akil?«
Das Weiße in den Augen des Priesters wurde sichtbar. Offensichtlich konnte er sich nicht vorstellen, wie ein Gott so etwas nicht wissen sollte, dennoch antwortete er bereitwillig: »Djoser.«
Rune entspannte sich. Er wusste einiges über Djoser, unter anderem, dass dessen Architekt Imhotep eines der größten und berühmtesten antiken Bauwerke errichtet hatte, die der Menschheit bekannt waren. Er hielt das Messer vor dem Priester in die Höhe und ließ alle Klingen herausschnellen, wobei er zusah, wie sich Akils Augen vor Staunen weiteten.
»Dies ist mein Geschenk an dich«, sagte er. »Du darfst es weder Khepri noch sonst jemandem zeigen. Schreibe nicht darüber, und hinterlasse keine Belege für seine Existenz. Als Beweis deiner Ergebenheit sollst du es am Eingang von Djosers Tempel in Sakkara vergraben.« Sakkara war die gewaltige Nekropole oder Totenstadt, die als Begräbnisstätte für Ineb Hedj und später für Memphis diente. »Vielleicht wird es sehr lange dauern, bis ich komme, um es zu holen, aber ich werde kommen.«
Er klappte das Messer wieder zusammen und hielt es dem Mann hin.
Akil nahm es ehrfürchtig entgegen. »Das werde ich, mein Herr. Dessen kannst du gewiss sein.«
Tja nun, dachte Rune. Das werden wir sehen.
Carlings Blick fokussierte sich auf die Einrichtung des Büros.
Sie saß in ihrem Schreibtischstuhl. An einer Wand lag, auseinandergenommen und zum Bündel verschnürt, der Wacholderschrank. Das schräg einfallende Sonnenlicht war nicht mehr das des Nachmittags, sondern das des frühen Abends. In tödlichen Streifen aus brennendem Gold fiel es durchs Fenster. Zitternd wandte sie den Blick ab.
Im Zimmer hallten die emotionalen Überreste von Aggression und Gewalt wider. Mit der Anspannung eines eingesperrten Tiers pirschte Rune durchs Büro. Sein Gesicht war starr, in seinen Augen tobte das rastlose Flackern rasender Gedanken. Seine langen, athletischen Schritte ließen das geräumige Büro erdrückend klein erscheinen. Er hob das schwere Bündel Holz an und blickte darunter. Dann suchte er den Boden entlang der Aktenschränke und den Zwischenraum zwischen Schreibtisch und Wand ab.
Carling räusperte sich, ihre Stimme klang eingerostet, als sie fragte: »Was um alles in der Welt tust du da?«
Mit loderndem Blick wirbelte er herum und landete mit einem Satz zu ihren Füßen. »Wie geht es dir?«
»Gut«, sagte sie. Bei allem, was hier vor sich ging, war es geradezu albern, das zu sagen. »Du siehst aus, als hättest du etwas verloren.«
»Ich habe mein Taschenmesser gesucht. Ich habe es in diesem Zimmer benutzt, und jetzt kann ich es nirgends finden.« Mit einer merkwürdigen Eindringlichkeit, die beinahe einer körperlichen Berührung glich, musterte er ihr Gesicht.
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