Der Kuss des Greifen (German Edition)
Magie bei mir benutzt«, sagte er mit kehliger Stimme.
Sie schnaubte. Offenbar war er in verspielter Stimmung. Ihre Erheiterung erstarb, als sie daran zurückdachte, wie düster und berechnend sie Angriffsmöglichkeiten gegen ihn hatte recherchieren wollen. Zu jenem Zeitpunkt war es ihr sinnvoll erschienen, aber jetzt wurde ihr ganz mulmig, wenn sie nur daran dachte, einen Angriffszauber gegen ihn auszusprechen. Selbst wenn Rune aus irgendeinem Grund ihr Feind werden sollte, glaubte sie nicht, dass sie ihm so etwas würde antun können. Nicht mehr.
Früher hätte sie alles getan, um zu überleben. Leben war das Allerwichtigste gewesen. Ausgerechnet jetzt, da ihre Zeit zur Neige ging und deshalb wertvoller war als jemals zuvor, hatte sie endlich entdeckt, dass es Wichtigeres gab als zu überleben.
Vom Flug durch den dichten Nebel waren beide schnell wieder klamm geworden. Die Stadt lag verschleiert da und war nur undeutlich zu erkennen, bis sie plötzlich direkt über ihr waren.
Carling spürte, wie sich etwas Schimmerndes über sie legte. Sie versteifte sich, begriff dann jedoch, dass diese Empfindung – worum es sich auch handeln mochte – von Rune ausging. Es war ein fremdartiges Gefühl, warm und intim, als hätte er irgendwie seine Aura erweitert, um sie darin aufzunehmen.
»Was ist das?«, fragte sie. »Was tust du da?«
»Ich schirme uns ab«, gab er zurück. »Ich hätte es sofort tun sollen, als wir losgeflogen sind, aber ich war abgelenkt. Die Leute bei der Flugsicherung von San Francisco dürften inzwischen in Hysterie ausgebrochen sein.«
Sie hob ihre Hand und betrachtete sie. Noch immer konnte sie sich sehen, wenn auch nur verschwommen, wie durch ein sehr altes Fenster. Sie unterzog Rune einem prüfenden Blick. Auch er war verschwommen, aber vollkommen sichtbar. »Bist du sicher, dass das richtig funktioniert?«
Er kicherte. »Ja, da bin ich sicher.«
»Ich kann uns noch sehen.«
»Das liegt daran, dass wir beide uns innerhalb des Schirms befinden. Andere können uns nicht sehen, was die Hauptsache ist.«
»A-haaa«, sagte sie und linste wieder skeptisch auf ihre Hand. »Das ist ein hübscher Trick – wenn du mich nicht auf den Arm nimmst.«
»Oh ihr Kleingläubigen«, murmelte der Greif. »Wo steht dein Stadthaus?«
Carling blickte sich um. Sie flogen gerade über das Presidio an der Nordspitze von San Francisco. Ursprünglich ein spanisches Fort, hatte es fast zweihundert Jahre lang als militärische Einrichtung gedient und war heute ein öffentlicher Park. Eingehüllt in den Nebel, der sich vom Meer hereinwälzte, sahen die alten, gepflegten Bäume dunstig aus. Nur unscharf war der Untergrund zu erkennen.
Carling seufzte. »Ich hätte vorgeschlagen, dass wir einfach in meinem Stadthaus bleiben, aber ich bin mir so gut wie sicher, dass jemand vom Personal ein Spion ist, und ich will nicht, dass Julian über jeden unserer Schritte informiert wird. Wie es aussieht, wird er schon nicht sehr erfreut über meinen Anruf sein, wenn ich ihm sage, dass ich wieder in der Stadt bin. Wir hatten uns darauf geeinigt, dass mein Zustand zu gefährlich ist, um mich unter vielen Leuten zu bewegen.«
»Scheiß auf Julian«, sagte Rune. »Es interessiert mich nicht, ob er erfreut ist oder nicht.«
Wieder seufzte Carling schwer. »Ich bin schon oft genug mit ihm fertig geworden, wenn er meinte, lästig werden zu müssen, und ich werde wieder mit ihm fertig, wenn es sein muss. Aber im Augenblick sollten wir uns auf Wichtigeres konzentrieren, als uns mit Julian anzulegen.«
Rune schwieg eine Weile, ehe er mit weicherer Stimme fortfuhr: »Du hast natürlich recht. Wir müssen Julian unsere Anwesenheit nicht unter die Nase reiben. Da ich nicht wusste, was mich hier erwarten würde, habe ich für alle Fälle eine Suite im Fairmont Hotel reservieren lassen. Dort können wir hin, wenn wir Rasputin abgesetzt haben. Ohne Zweifel wird es auch dort Spione geben, aber es ist nicht dasselbe wie in deinem eigenen Haus.«
»Du hast sicher recht«, murmelte sie. »Mir ist es egal, wohin wir gehen.«
»Dann ins Hotel«, sagte Rune. Er stieg steil in die Höhe und segelte über die Hausdächer hinweg, um sich an einer Straßenecke in der Nähe ihres Hauses in die Tiefe zu stürzen. Die Stadthäuser waren luxuriös, und Carlings lag nur einige Blocks von der Market Street entfernt. Ihm fiel auf, dass die Büros von Turner und Braeburn ebenso wie die Einwanderungsbehörde der Nachtwesen von ihrem Haus aus gut zu Fuß zu
Weitere Kostenlose Bücher