Der Kuss des Greifen (German Edition)
Für ein so dramatisches Ereignis war dieses Bild ziemlich nüchtern und langweilig. Und doch schien es intuitiv einfach zu passen. Die beiden Teile des gefalteten Papiers existierten nebeneinander, lagen so dicht beieinander, dass sie sich berührten. Ein Teil des Papiers war die Gegenwart. Wenn sie in Carlings Vergangenheit eintraten, bewegte er sich um diesen winzigen, engen Knick und befand sich anschließend auf der anderen Seite.
Weiter jedoch trug die Analogie nicht, denn es hätte zahllose mögliche Knickstellen in dem Papier geben müssen, um jeden Augenblick in der Zeit zu repräsentieren. Aber dennoch war die Vorstellung, um eine Kurve zu gehen, die unmöglich klein und so eng war, dass sie überhaupt keinen Raum einnahm, irgendwie bestechend. Es erschien ihm irgendwie logisch, weil …
… weil diese Vorstellung möglicherweise eine Richtung vorgab, der sie tatsächlich folgen konnten.
Hätte er es nicht bereits getan, er hätte den Atem angehalten.
Dieses Gefühl konnte natürlich eine Illusion sein. Es gab absolut nichts, worauf er es stützen konnte. Ebenso gut hätte er sich von einer unbekannten Felsklippe in völlige Dunkelheit stürzen können, so gefährlich kam es ihm vor. Aber es interessierte ihn brennend, wie es sein würde, Carling mit diesem Gefühl in ihren nächsten Schub zu begleiten.
Offenbar begann er zu glauben, dass er tatsächlich auf die Vergangenheit einwirkte, auf die echte Vergangenheit, nicht nur darauf, was Carling in ihrer Erinnerung widerfahren war. Er war gespannt darauf, was dieser verdammte Dschinn herausfinden würde, wenn Carling ihm die Aufgabe erteilte, Runes Messer zu suchen.
Entweder spürte Carling, dass er tief in Gedanken versunken war, oder sie war mit eigenen Überlegungen beschäftigt, denn sie legten die Strecke nahezu komplett schweigend zurück. Nachdem sie der Unterwasserspalte gefolgt waren und den Übergang passiert hatten, schossen sie nach oben. Auf der anderen Seite schimmerte Tageslicht auf der Wasseroberfläche. Als sie im blassen Licht eines kühlen, nebelverhangenen Tages auftauchten, brannten Runes Lungen.
Tropfnass versuchten sie, sich zu orientieren. »Wie können andere Vampyre die Passage sicher durchqueren, wenn man nie weiß, welche Tageszeit auf der anderen Seite gerade ist?«, fragte Rune. »Rhoswens Gesicht, ihre Hände und Teile ihrer Füße waren nicht bedeckt.«
Carling strich sich die tropfnassen Haare aus den Augen. Sie schwamm los, und Rune folgte ihr mit kräftigen Zügen. »Sie können Vorsichtsmaßnahmen ergreifen und sich vor dem Aufbruch so kleiden, dass sie vollständig verhüllt sind«, sagte Carling. »Außerdem gibt es hier einen Unterwassertunnel und auf der anderen Seite eine Höhle. Wenn sie aus der Passage kommen, haben sie genug Zeit, um herauszufinden, ob es Tag ist oder nicht. Dann können sie unter Wasser bleiben und in den Tunnel oder die Höhle schwimmen. Der Tunnel auf dieser Seite gehört zum alten Abwassersystem der Stadt.«
»Ich habe Geschichten über alte Geheimtunnel unter San Francisco gehört«, sagte Rune. »Es sollen Vampyr- und Opiumtreffs sein.«
»Die meisten halten diese Geschichten für Urban Legends, aber sie sind wahr. Es ist gefährlich dort, und zwar nicht nur wegen der Vampyre und Drogenabhängigen – in diesen Tunneln leben üble Kreaturen.«
»Cool«, sagte Rune. »Hört sich nach einem spaßigen Ort für einen Urlaub an.«
Carling schüttelte den Kopf. Er war unbezähmbar. »Der Tunnel, den ich meine, ist nicht allzu weit verzweigt. Er führt zu einem überirdischen Haus mit verrammelten Fenstern. Die meisten Vampyre wollen nicht das Risiko eingehen, dass ihnen unter Wasser etwas zustößt und sie ungeschützt an die Oberfläche treiben, deshalb treffen sie ohnehin zusätzliche Vorsichtsmaßnahmen und packen sich von Kopf bis Fuß ein.«
»Würde ich genauso machen.« Rune drehte sich im Wasser um die eigene Achse. »Weißt du, es ist ein schöner Tag zum Schwimmen und so, aber wenn du mutig bist, kann ich uns um einiges schneller ans Ufer bringen.«
Fragend sah sie ihn an. »Ich bin mutig.«
Mit einem Schwimmstoß drehte er sich um, sodass er ihr den Rücken zuwandte. »Leg die Arme um meinen Hals.«
Beinahe hätte er laut aufgestöhnt, als ihre kühlen Arme um seinen Hals glitten und ihr kurvenreicher Körper seinen Rücken streifte. Dann gab er ihr den Gurt des Behälters, und sie sagte: »Es muss anstrengend sein, aus dem Wasser abzuheben.«
»Es ist nicht die
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