Der Kuss des Morgenlichts
und ging in ein klägliches Wimmern und Schluchzen über.
Als es vorüber war, wollte ich zu ihr, den Schmerz irgendwie lindern, ihr – auch wenn ich das nicht konnte – zumindest beistehen, doch schon beim ersten Schritt, den ich machte, richtete Aurora ihr Schwert auf mich. Zum ersten Mal sah ich ihr direkt in die Augen, aber nachdem es draußen dunkel geworden war, konnte ich keine Farben mehr erkennen, nur grau.
»Komm ihr nicht zu nah!«, zischte sie.
Ich zuckte zurück, sank wieder auf den Boden, lauschte, wie Caras Wimmern langsam verstummte. Aus dem protestierenden Nein, das mir eben noch durch den Kopf gehallt war, wurde eine schlichte, unentrinnbare Einsicht: Sie wird mich töten … meine Tochter wird mich töten … nein, der Dämon wird es tun.
Doch wenn dieser Dämon so machtvoll war, wenn ich nicht mehr zu Aurora durchdringen konnte, so konnte das nur bedeuten, dass er sie nicht nur verdrängt, sondern getötet hatte, ja, dass sie lange vor mir gestorben war. Und jetzt hatte ich keine Angst mehr vor dem Tod, jetzt wollte ich liebend gerne sterben. Keine öde, leere Finsternis bedeutete er – nur das Versprechen, Aurora wiederzusehen. Ja, sie würde am Rande der Welt warten, bis ich zu ihr kam.
Immer wirrer wurden meine Gedanken. Seit Tagen hatte ich nichts mehr gegessen, getrunken und auch nicht geschlafen. Auch jetzt fand ich keinen Schlaf, aber ich war in einer seltsamen Starre gefangen, als würde ich mit offenen Augen träumen. Es entging mir nicht, wie der Dämon Cara immer wieder verletzte und sie gequält schrie, aber es setzte mir nicht mehr zu, es schien nicht mehr wirklich. Auch meine Gedanken an Nathan verblassten. Anfangs hatte ich mir noch Sorgen darüber gemacht, wie es ihm im Kampf gegen Caspar erging. Ich hatte mir vorgestellt, dass er ihn vielleicht besiegt hatte und zu unserer Rettung kommen würde, doch längst hatte ich keine Hoffnung mehr. Wenn er herausfand, in welch grauenhaftes Monster sich Aurora verwandelt hatte, würde er sie gewiss töten – genauso wie Caspars Kind –, und obwohl sie nichts mehr von meinem Kind hatte außer der Hülle, war mir diese Vorstellung unerträglich. Lieber wollte ich sterben, als das mitzuerleben – sterben und die echte Aurora wiedersehen.
Gefühllos wurde mein Körper, leer und leicht. Die Schwerkraft schien ihre Macht zu verlieren. Ich schwebte, schwebte immer höher über dem Boden, zur Decke hin, sah mich von weither dort unten liegen, ein nutzloses Stück Fleisch, dessen sich vielleicht ein anderer Dämon bemächtigen wollte. Allerdings … ich war keine Nephila … ich zählte zum Menschenpack … zumindest für Josephine, die über mich spottete und lachte … für den Dämon, der immer wieder schreckliche Dinge über Cara und mich sagte …
Plötzlich schwiegen die beiden. Auch Cara war verstummt, brachte keinen Schmerzenslaut mehr hervor. Was war geschehen?
Ich kehrte in meinen Körper zurück, fühlte mich nicht länger leicht und befreit, sondern schwer und gelähmt. Immerhin konnte ich den Kopf so weit zur Seite drehen, dass ich das gelbliche Licht wahrnehmen konnte, das durch die Ritzen fiel – eigentlich viel zu grell, um Morgenlicht zu sein.
Ich sah Aurora nach dem Schwert greifen. »Es ist so weit.«
Trotz der Leere in mir fühlte ich kurz Genugtuung. Vielleicht war die Nacht tatsächlich vorüber, vielleicht war meine letzte Stunde gekommen, aber dieses Licht hier war keine Morgenröte, keine richtige. Das hier war kein langsames zartes Erwachen eines neuen, frischen Tages.
Josephine zweifelte ebenfalls: »Nein … nein«, murmelte sie, »es ist noch viel zu früh. Kaum Mitternacht vorbei.«
Das gelbliche Licht malte wirre Schatten auf die Wände, schien dann wieder zu erlöschen.
Aurora – oder vielmehr der Dämon – ließ sich nicht verunsichern. »Ich bestimme den Zeitpunkt«, erklärte sie.
»Aber du kannst nicht … «
»Traust du es mir etwa nicht zu?«, fiel sie Josephine schroff ins Wort. »Was würde Caspar davon halten?«
»Aber … «, setzte Josephine an.
»Caspar hat mir befohlen, sie zu töten. Das ist meine erste große Prüfung.«
»Dagegen habe ich nichts einzuwenden, aber … das Licht … es ist noch nicht Morgen. Es ist … «
Aurora fixierte sie mit starren Augen. »Mach eines der Fenster auf!«, befahl sie. »Mach es weit auf! Dann wirst du den Himmel sehen. Und sobald die Wolken rosige Fäden spinnen, gib mir ein Zeichen.«
»Es ist wirklich noch nicht Morgen!«
»Wenn ich es
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