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Der Kuss des Morgenlichts

Der Kuss des Morgenlichts

Titel: Der Kuss des Morgenlichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leah Cohn
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sage, dann ist es so!«
    Eine kurze Weile starrten sie sich an, fochten einen stummen Machtkampf aus, der die Luft flirren ließ. Ich presste mich unwillkürlich an die Wand, sah in Josephines Zügen, wie das Unverständnis der Angst wich – weniger der Angst vor Aurora als der vor Caspar.
    Schließlich fügte sie sich, senkte den Blick und ging zu einem der Fenster. Sie öffnete es, stieß die Fensterläden auf und blinzelte – genau wie ich.
    Ich war aufgesprungen – nicht nur von der frischen Luft belebt, die in den stickigen Raum strömte, sondern weil ich nun plötzlich ahnte, nein wusste, was geschehen würde, und weil ich nicht begreifen konnte, warum ich es nicht die ganze Zeit über hatte kommen sehen.
    Josephine wich vom Fenster zurück. Der gelbe Lichtschein, der den Raum erhellt hatte, stammte nicht von der aufgehenden Sonne, sondern von vorbeifahrenden Autos. Man hörte ihre Motoren röhren, dann wurde es wieder stockdunkel und still.
    »Es ist nicht … «
    Als sie herumfuhr und bemerkte, was hinter ihrem Rücken vorgegangen war, schrie sie auf.
    Blitzschnell hatte Aurora Cara das Schwert gereicht – und Cara war wendig wie eine Katze aufgesprungen. Ihr elendes Wimmern der letzten Stunden, ihr röchelnder Atem, ihre Gebrechlichkeit – nichts davon war übrig geblieben. Sie umklammerte den Knauf des Schwertes und stand aber dann sicher auf ihren Beinen und hob die Waffe.
    »Schaffst du es?«, fragte Aurora.
    Es war nicht mehr die blecherne Stimme des Dämons, die ertönte, sondern die Stimme meines Kindes. Meiner Aurora.

    »Schaffst du es?«, fragte sie wieder.
    Ich hörte nicht, wie Josephine aufstöhnte, ich hörte nicht, was Cara antwortete. Es zählte nur eines: Dass es Aurora war, die diese Worte sagte.
    Cara war darüber keineswegs verwundert – sie schwang das Schwert so mühelos in der Luft, als hätte es keinerlei Gewicht. Für Josephine hingegen war die Wucht der jähen Erkenntnis, dass Aurora nicht nur eine gute, sondern meisterhafte Schauspielerin war, die selbst ihre Mutter täuschen konnte, ebenso gewaltig wie für mich. Josephine fuhr vom Fenster zurück.
    »Du kleines Miststück!«, kreischte sie auf, und sie sprang auf Aurora zu. »Du hast gelogen! Du hast mir die ganze Zeit etwas vorgemacht! Du … «
    »Du glaubst doch nicht wirklich, dass ich zu Caspar gehöre!«, unterbrach Aurora sie.
    Diese Stimme war mir wieder völlig fremd, doch sie klang nicht unangenehm wie das blecherne Zischeln. Alt klang sie, uralt, und hatte nichts mit der eines kleinen Mädchens gemein. Es war, als stecke in ihrem Körper eine Seele, die schon den Anbeginn der Welt erlebt hatte.
    Mit einem Aufschrei hob Josephine die Hände und wollte nach ihr packen, doch ihr rasender Zorn machte sie blind für Cara. Blitzschnell sprang diese dazwischen. Im nächsten Augenblick sah ich das Schwert durch die Luft schneiden, hörte ein Geräusch, als würde etwas reißen oder zerplatzen, dann einen Schrei – noch grässlicher als die Klagelaute, die Cara in der Nacht immer wieder ausgestoßen hatte. Bevor ich sehen konnte, was passiert war, stand Aurora neben mir und nahm mich an der Hand.
    »Komm, komm schnell!«
    Wieder dieses Geräusch, wieder der Schrei hinter mir, dann taumelte ich an Auroras Seite schon die Treppe hinunter, kam unten im Laden an, stieß gegen ein Regal. Ich achtete nicht auf den Schmerz in meinem Ellbogen, sondern zog Aurora an mich und umklammerte sie. Ich glaubte zu zerspringen vor Glück, Dankbarkeit und Erleichterung.
    »Es tut mir leid«, stammelte sie, als ich sie endlich wieder freigab. »Mama, ich musste so tun, als ob ich … «
    »Mir tut es leid!«, fiel ich ihr ins Wort. »Mir tut es so leid, dass ich es auch nur einen Moment geglaubt habe!«
    Ich wusste nicht, ob ich mir das je verzeihen konnte.
    »Aber du musstest es glauben! Es konnte nur funktionieren, weil du es geglaubt hast! Josephine hätte es gemerkt, wenn du ihr nur etwas vorgespielt hättest.«
    »Aber Cara? Was hast du mit Cara gemacht?«
    Die russischen Worte fielen mir wieder ein, die sie ihr zugerufen hatte.
    »Sie hat es erst auch nicht verstanden«, erklärte Aurora. »Aber dann habe ich auf Russisch gesagt, dass ich nur so tun würde, als ob ich sie verletze, und sie laut schreien solle. Es ist mir keine andere Sprache eingefallen, und ich war mir nicht sicher, ob Josephine sie womöglich versteht. Aber es hat funktioniert.«
    Caras Schreie hallten in meinen Ohren wider – so markerschütternd, so

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