Der Kuss des Morgenlichts
traf Caras, doch während ich sie voller Verzweiflung ansah, war ihr Blick seltsam ausdruckslos, so, als wäre sie schon tot, als hätte es keinen Sinn, zu kämpfen und als wäre es fast eine Erleichterung, von der Last ihres Daseins befreit zu werden. Ich zog an Josephines Arm, erreichte immerhin, dass sie das Schwert wieder herunternahm. Sie blickte mich an wie ein lästiges Insekt und versetzte mir einen Stoß, der mich durch den halben Raum fliegen ließ. Ich prallte hart auf dem Boden auf. Ich stöhnte, rieb mir die schmerzenden Glieder. Indessen hatte Josephine das Schwert wieder erhoben, schwang es über Cara. Ich konnte nun nichts mehr dagegen tun, nur noch schreien, hemmungslos und verzweifelt. Doch nicht dieser Laut war es, der Josephine zusammenzucken und innehalten ließ.
Aurora war vor sie getreten, hatte ihre Hand gehoben und ihre Finger gespreizt – ähnlich wie an jenem Tag, da sie den wilden Hund beschwichtigt hatte. Kein Entsetzen, keine Angst war in ihrem Gesicht zu lesen, nur Entschlossenheit. Ich wollte zu ihr stürzen, sie von Josephine fortreißen, sie mit meinem eigenen Körper schützen. Doch noch ehe ich mich regen konnte, sprach Aurora mit kalter, befehlender Stimme: »Nicht! Tu es nicht!«
Und Josephine ließ ihr Schwert sinken.
Kurz durchflutete mich ein Gefühl der Erleichterung, überzeugt, dass ein Wunder geschehen war, dass Aurora dank ihrer telepathischen Fähigkeiten Josephine kraft ihres Willens bezwingen konnte.
Was Aurora dann sagte, war umso grauenhafter, umso zerstörender. Nichts hatte mich darauf vorbereitet.
»Tu es nicht!«, wiederholte Aurora, ihre Hand immer noch erhoben. »Denn ich will es tun!«
Ich erstarrte, hatte das Gefühl, nicht mehr atmen zu können. Josephine wich vor ihr zurück.
»Du …?«
Da lachte Aurora – lachte nicht so, wie mein Kind immer gelacht hatte, mit diesem hellen, fröhlichen Klang. Nein, sie lachte blechern und zischend und klapperte dabei blitzschnell mit ihren Zähnen, so dass ihr Lachen merkwürdig zerhackt war. Es klang bösartig und höhnisch.
Dann verstummte sie plötzlich. »Caspar wäre verärgert, wenn du dich meinem Wunsch widersetzt«, erklärte sie, nunmehr wieder kalt und befehlend.
Ich schüttelte den Kopf. Unmöglich konnte es meine Aurora sein, die so sprach und so lachte. Ihre ganze Gestalt war plötzlich so fremd. War sie größer geworden, schmaler?
Das war nicht Aurora, nicht mein Kind, irgendjemand hatte es ausgetauscht, irgendjemand hatte ihre Hülle mit einem anderen Wesen gefüllt, einem bösen, grausamen Wesen.
»Du willst Cara töten?«, fragte Josephine, offensichtlich fassungslos und fasziniert, weil auch sie diese Wandlung nicht erwartet hatte.
»Denkst du, ich bin nicht so weit?«, gab Aurora scharf zurück. »Wenn Caspar wüsste, dass du das denkst, wäre er sehr verärgert.«
»Aber deine Ausbildung«, hielt Josephine entgegen, »sie hat doch eben erst begonnen! Du bist erst sieben! Und sie … Cara und Nathan … haben doch solch großen Einfluss auf dich ausgeübt.«
Aurora schüttelte verächtlich den Kopf. »Spätestens jetzt würde Caspar dich töten!«, stieß sie voller Zorn aus. »Glaubst du denn tatsächlich, Cara und Nathan hätten je auch nur die geringste Macht über mich gehabt? Lange bevor die beiden in meinem Leben aufgetaucht sind, hat Caspar mich auf sich eingeschworen. Du denkst doch nicht«, sie klang nun zutiefst herablassend, »du denkst doch wohl nicht, er könnte darin versagt haben?«
Josephine zuckte verwirrt mit den Schultern, glich in diesem Moment einer ganz normalen, alten Frau. Ihre Haut wirkte wieder runzelig, die Augen glanzlos, die Gestalt gekrümmt.
»Du willst Cara tatsächlich töten«, stellte sie fest. »Und deine eigene Mutter.«
Aurora ließ die Hand sinken, die sie eben noch beschwörend gehoben hatte, und trat auf Josephine zu. Ich versuchte ihren Blick zu erhaschen, wollte in ihre blauen Augen schauen, doch als sie weitersprach, konnte ich nur zurückweichen, mich ducken, mir entsetzt die Hände vor das Gesicht schlagen.
»Wenn du wüsstest«, begann Aurora. »Wenn du nur wüsstest, wie sie mich alle angewidert haben! Du glaubst, du kannst es nachfühlen, weil du selbst so lange mit dem Menschenpack gelebt hast? Heimlich, ohne dich zu offenbaren? Von wegen! Mit nichts lassen sich meine Qualen und mein Ekel vergleichen. Wie sie mich angesehen hat, meine ängstliche, zitternde, panische, dumme Mutter! Und wie sie mich immer berührt hat, so
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