Der Kuss des Morgenlichts
echt!
Ähnliche Schreie kamen weiterhin von oben, wurden nicht weniger. Ich wollte mir nicht ausmalen, was dort gerade vor sich ging, mir am liebsten die Ohren zuhalten und wusste zugleich: Wenn ich die Möglichkeit und die Kraft dazu gehabt hätte, ich wäre wie Cara auf Josephine losgegangen.
Endlich verstummten die Schreie. Ich spürte, wie ein Zittern durch Auroras Körper ging, das die unerträgliche Anspannung der letzten Stunden verriet. Sie war ganz allein auf sich gestellt gewesen. Hatte den Moment abwarten müssen, in dem Cara wieder halbwegs zu Kräften gekommen war. Und hatte mit der Angst leben müssen, dass Josephine sie durchschaute.
Cara betrat die Treppe – und hatte nichts mehr mit dem schwächlichen Wesen gemein, das vorhin kraftund hilflos auf dem Boden gelegen hatte und sich nicht wehren konnte. Langsam nahm sie Stufe für Stufe. In der Dunkelheit glich sie mit dem Schwert in der Hand einem Erzengel. Eine seltsame Starre lag auf ihrem Gesicht.
Auch ohne zu fragen, wusste ich sofort, dass Josephine tot war und dass Cara sie hatte verbluten lassen, um sich ihre körperlichen Kräfte anzueignen, die sie im Augenblick am dringendsten brauchte. Unauffällig suchte ich sie mit den Augen nach Spuren des sämigen, blauen Blutes ab, aber in der Dunkelheit waren keine Farben zu erkennen. Sie kam auf mich zu, und meine erste Regung war, sie zu umarmen, doch das Schwert in ihrer Hand ließ mich zurückweichen. Schwarz glänzte die Klinge, als klebte Pech daran.
»Ich hätte es wissen müssen!«, stieß sie aus. »Ich hätte wissen müssen, wer Josephine war! Wie dumm, wie unverzeihlich, zu glauben, sie sei eine liebenswerte alte Frau gewesen!«
Eine tiefe Falte furchte ihre glatte Stirn.
»Aber sie haben es doch von langer Hand geplant – Josephine und Caspar. Wahrscheinlich hat er ganz bewusst nach einer Unauffälligen gesucht, die sich ihm anschließt – und die sich nicht nur dein, sondern auch mein Vertrauen erschleicht. Wenn sie sich so perfekt verstellen und tarnen konnte, wie hättest du es ahnen können?«
Sie schüttelte düster den Kopf. »Vielleicht ist es unmöglich gewesen, in ihr die Nephila zu erkennen – aber zumindest hätte ich ihr nicht rückhaltlos vertrauen dürfen … ihr niemals Aurora überlassen dürfen … Das war … «
Sie hielt inne, schien zu begreifen, dass dies nicht der richtige Zeitpunkt war, sich den Kopf darüber zu zerbrechen. Josephine war tot; diese Gefahr war gebannt. Aber das bedeutete nicht, dass wir in Sicherheit waren.
»Caspar … «, stammelte ich. »Nathan … «
Der Kampf, der hoch oben am Berg ausgefochten worden war, als wir von dort flohen – war er noch im Gange oder längst entschieden?
»Was sollen wir denn jetzt tun?«, fragte ich. »Was … «
Die Worte blieben mir im Hals stecken. Mein Blick war die ganze Zeit auf Cara gerichtet gewesen, doch nun, da ich mich von ihr abwandte, sah ich, dass dort, wo eben noch Aurora gestanden hatte, niemand mehr war.
»Aurora!«, schrie ich.
Cara seufzte – anders als ich schien sie weder überrascht noch entsetzt zu sein, sondern schien sich dem Unausweichlichen zu fügen.
Ich stürzte zum Eingang des Ladens. Die eben noch verschlossene Tür stand sperrangelweit offen. Stockdunkel und kalt war es im Freien, als ich mich nach meiner Tochter umblickte – und weit und breit keine Spur von ihr entdeckte.
»Aurora!«, schrie ich in die Nacht. Als Cara zu mir trat, scheute ich mich nicht länger, sie zu berühren. »Wo ist sie?«, rief ich verzweifelt und klammerte mich an ihre Hand. »Wo ist sie hin?«
Cara seufzte wieder. »Sie tut, was sie tun muss. Sie will Nathan … zu Hilfe eilen.«
Es war schwarz, tiefschwarz. Vor Josephines Laden hatte der Schein der Straßenlampen den Weg gewiesen; dann und wann war ein Auto vorbeigekommen und hatte die Straße erhellt, in der Ferne verrieten manche Lichter, die auch in der Nacht nicht erloschen waren, Hallstatt. Doch als es tiefer in den Wald und höher den Berg hinaufging, versank alles in Dunkelheit. Nur dann und wann zwängte sich der Mond zwischen den Wolken hindurch, und sein schmaler Reif spendete ein blasses Licht, das das Schwarz der Bäume vom noch düsteren Grau des Himmels abgrenzte. Ich wurde von Cara gezogen und konnte so den steilen Weg in unglaublichem Tempo zurücklegen.
»Nathan hat gemeint, du würdest Caspars Nähe fühlen«, flüsterte ich. In der nächtlichen Stille klang jedes Knacken wie ein Donnern und mein Raunen wie ein
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