Der Kuss des Morgenlichts
Merkst du nicht, dass sie dich verabscheut?«
Das Schwert schüchterte mich nicht ein. Furchtlos hielt ich der drohenden Klinge stand, wollte lieber sterben, als mich von meinem Kind fernhalten.
Caras Stimme hielt mich auf. »Leg dich nicht mit ihr an!«, flüsterte sie.
Ich wusste nicht, warum sie mich zurückhielt. Hatte sie anders als ich bereits akzeptiert, dass Aurora verloren war? Oder war da noch Hoffnung in ihr, dass irgendetwas unsere Lage wenden würde, wir nicht im Morgenrot sterben mussten?
Ich betrachtete sie eingehend, konnte aber im trüben Licht kaum mehr erkennen als ihre Umrisse. Ihre Stimme schien etwas kräftiger, doch die Wangen wirkten ausgehöhlt und bleich. Sie hob den Kopf – vielleicht ein Zeichen, dass sie langsam wieder zu Kräften kam und uns bald verteidigen konnte.
Doch wenn das tatsächlich ihr Plan gewesen war, wurde er schon im nächsten Augenblick zunichte gemacht.
»Sie erholt sich«, stellte Josephine mit Blick auf Cara fest.
Wie dumm zu glauben, dass ihr das entgehen könnte und dass sie nichts dagegen tun würde! Das Schwert weiterhin drohend in die Luft gereckt, trat sie zu Cara hin und ließ es einige Male über ihrem Kopf kreisen. Ich ahnte, was sie vorhatte. Töten würde sie sie nicht, aber erneut verletzen, so dass sie noch mehr Blut verlor. Cara versuchte zur Seite zu rollen, aber schaffte es nicht. Josephine grinste höhnisch, holte aus – und hielt mitten in der Bewegung inne.
»Ich«, sagte Aurora mit dieser fremden blechernen Stimme – grässlicher als alles, was ich jemals vernommen hatte. »Ich will das tun!«
Josephine drehte sich langsam zu ihr um. Wie vorhin standen Verwirrung und Skepsis in ihrem Blick.
»Ja«, bestand Aurora, »Caspar würde es wollen, dass ich mich darin … übe.«
Forsch trat sie auf Josephine zu, packte das Schwert am Knauf und entzog es ihr. Josephines Widerstand war schwach, sie trat zurück – und auch ich konnte nicht anders, als zu weichen. Eigentlich wollte ich mich vor Cara stürzen, meiner Tochter in den Arm fallen, wollte sie so lange anschreien, bis der Dämon vertrieben war. Aber als ich sie mit dem riesigen Schwert und diesem leeren Gesichtsausdruck sah, sackte das Blut in meine Füße, mein Körper wurde gefühllos, das Bild vor mir verschwamm. Ich fiel auf meine Knie. Alle meine Gedanken waren erfüllt von einem einzigen Schrei: »Nein! Nein, nein, nein!«
Ich konnte mich nicht rühren, mich nicht vor diesem Anblick schützen.
Nein, nein, nein!
Was mich zur Besinnung brachte, waren Wörter in einer fremden Sprache, die eben erklangen, bedächtig ausgesprochen wie ein Zauberspruch. Ich wusste nicht, aus wessen Mund sie kamen, und war mir auch nicht sicher, welcher Sprache sie entstammten.
Mein Kopf war vorhin auf den Boden aufgeschlagen. Langsam strömte Blut zurück in meine Glieder, brachte meine Lebensgeister zurück.
»Was hast du gesagt?«, hörte ich Josephine schrill rufen. »Was hast du zu ihr gesagt?«
Also war es Aurora gewesen, die in dieser fremden Sprache zu Cara gesprochen hatte. Nicht lange war es für mich ein hoffnungsfrohes Zeichen. »Das war Russisch«, erwiderte Aurora, und setzte blechern hinzu: »Als sie mein Kindermädchen war, wollte sie immer wissen, wie viele Sprachen ich beherrschte. Sie glaubte doch tatsächlich, sie könnte mich noch mehr lehren – so wie sie glaubte, sie müsste mich behutsam darauf vorbereiten, als Nephila zu leben! Ha! Ich wusste längst, wer ich bin und was ich kann. Wie lästig mir ihr besserwisserisches Getue war!«
»Und jetzt, was hast du jetzt zu ihr gesagt?«
»Wie widerwärtig es mir war, mit ihr zusammen sein zu müssen! Wie unerträglich die letzten Wochen! Du kennst das Menschenpack doch, Josephine. Du weißt, wofür sie sich interessieren. Immer geht es nur ums Essen … immer musste ich irgendetwas hinunterwürgen: Kuchen, Kakao, Eis … «
Sie schüttelte sich, als hätte man ihr Maden vorgesetzt, versteifte sich dann jedoch, um das Schwert zu heben. Sie tat es nicht mühelos wie Josephine, ihr Gesicht verzerrte sich vor Anstrengung, und doch war sie stark genug, um es hochzustemmen und es auf Cara heruntersausen zu lassen.
Ich schloss die Augen, als ich Cara gequält aufschreien hörte. Die Nephilim mochten stärker als Menschen sein, geschickter und klüger – aber Schmerzen schienen sie auf gleiche Art zu empfinden. Zumindest ließ Caras Geschrei keinen anderen Schluss zu. Spitz und durchdringend war ihr Heulen, ebbte schließlich ab
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