Der Kuss des Morgenlichts
andere Verweise auf sie. Ich glaube, im Buch Henoch ist einiges nachzulesen.«
»Finde ich das auch in der Bibel?«, fragte ich rasch und begann schon zu blättern.
»Nein, das zählt zu den apokryphen Schriften.«
Irgendwann hatte ich diesen Ausdruck schon mal gehört, und wenn ich mich recht erinnerte, wurden so Texte bezeichnet, die zur gleichen Zeit wie die Bibel entstanden, jedoch nicht in den Kanon der Heiligen Schrift aufgenommen worden waren. »Und was steht im Buch Henoch über die Nephilim?«
»Sie werden als überaus starke, jedoch auch als zutiefst bösartige Wesen geschildert. Sie begehen Gewalttaten, stiften Verderben, greifen Menschen an, zerstören ihre Häuser, bereiten jede Art von Kummer und erregen Anstoß. Manchmal heißen sie hier nicht Nephilim, sondern Awwim, was sich mit ›Söhne der Schlange‹ übersetzen lässt. Die Kirchenväter sahen später darin einen Verweis auf die gefallenen Engel, also auf Luzifer. Wenn ich es recht überlege, dann machten die Nephilim den Menschen nicht nur das Leben schwer, weil sie sie quälten und versklavten, sondern weil sie ein regelrechtes Blutbad unter ihnen anrichteten. Sie waren offenbar sehr gierig nach Menschenfleisch und verzehrten einen nach dem anderen. Ich glaube im Buch Henoch wird behauptet, dass erst mit Erscheinen der Nephilim auch die Menschen damit begonnen haben, Fleisch zu essen, aber ehrlich gesagt müsste ich das noch einmal gründlich nachlesen. Diese Schriften sind teilweise sehr verwirrend.«
»Aber sie geben in jedem Fall Zeugnis davon, dass es neben den Menschen noch eine unsterbliche, wenngleich zutiefst bösartige Rasse auf der Welt gibt«, sagte ich atemlos.
»Ja«, bestätigte er schlicht und fuhr dann fort: »Ich glaube, an einer Stelle im Buch Henoch wird auch ausführlich berichtet, wie es zur Zeugung der Nephilim kam. Hier ist nicht länger von den Gottessöhnen die Rede wie noch im Buch Genesis, sondern von einer Gruppe Engel, die Gott auf die Welt schickte, damit sie den Garten Eden bewachen. Doch anstatt ihrer Pflicht nachzukommen, wurden sie von den schönen Menschentöchtern abgelenkt und verführt. Diese Engel wurden als die Hüter bezeichnet oder – so in der griechischen Übersetzung – als die Grigori.«
Ich umklammerte den Telefonhörer so fest, dass ich glaubte, er würde gleich zerspringen.
»Sophie? Sophie, was hast du denn? Du atmest so unruhig. Ist dir schlecht?«
Seine Stimme kam wie von weither.
»Nein«, flüsterte ich, »nein, es ist alles in Ordnung. Danke für die Informationen. Die genügen mir fürs Erste.«
Ich legte auf, ohne mich zu verabschieden; ich konnte kein einziges Wort mehr sagen.
Grigori.
Nathanael Grigori.
Eben noch hatte ich geglaubt, dass die Anspannung mich förmlich zerreißen würde, jetzt breitete sich abgrundtiefe Erschöpfung in mir aus. Ich stand auf, wankte zum Bücherregal und wollte die Bibel zurück an ihren Platz stellen. Doch als ich die Hand zu heben versuchte, gelang es mir nicht. Das Buch erschien mir plötzlich bleischwer. Ich sank kraftlos neben dem Regal zu Boden und zog die Bibel fest an meine Brust. So saß ich regungslos über Stunden – genau in dem gleichen Zustand, der mich bei Aurora so erschreckt hatte: die Augen weit aufgerissen und auf einen imaginären Punkt gerichtet, den Oberkörper leicht vor und zurückwippend.
Riesen … Gefallene … bösartige Wesen … Unsterbliche …
Als der Morgen graute, schlief ich ein.
Mein Kopf war im Schlaf zur Seite gekippt. Als ich erwachte, schmerzte mein Nacken. Cara beugte sich über mich und rüttelte mich sanft an den Schultern.
»Sophie? Was machst du denn hier?«
Ich sprang auf, stieß ihre Hand weg und ignorierte den Schmerz. In meinem Mund schmeckte es bitter. Ich versuchte mich daran zu erinnern, was ich geträumt hatte – irgendetwas Diffuses, Bedrohliches, Wirres. Doch als ich darüber nachdachte, fiel mir ein, dass es kein Traum gewesen war, sondern Wirklichkeit. Ich hatte in der Bibel gelesen und mit Martin Schmitzke telefoniert – über die Nephilim. Cara bückte sich, um die Bibel aufzuheben, die auf den Boden gefallen war.
»Nicht!«, rief ich fast panisch und riss ihr das Buch aus der Hand.
Sie starrte mich an – besorgt und irgendwie angespannt.
Ehe sie etwas sagen konnte, fragte ich hastig: »Wie spät ist es?«
»Kurz vor halb neun. Aurora hat mir vorhin aufgemacht. Ich habe ihr einen Kakao gemacht, und … «
»Ich habe so lange geschlafen?«
Eben noch hatten sich
Weitere Kostenlose Bücher