Der Kuss des Morgenlichts
murmelte er, »und genau das ist das Problem.«
Mein Blick fiel auf den Laptop, wo ich gestern noch vergebens nach dem Wort FELIM gegoogelt hatte. Ich atmete tief durch und versuchte die Gefühle zu bezwingen, die mir die Kehle zuschnürten. Ich musste einen kühlen Kopf bewahren, befahl ich mir, mich nicht aufregen, sondern wie bei einer wissenschaftlichen Arbeit vorgehen. Fakten zusammentragen, sie ordnen, sie analysieren. Mit Verstand, aber ohne Gefühl.
»In der Bibel steht, dass die Nephilim … diese Riesen … von Gottessöhnen und Menschentöchtern gezeugt wurden«, sagte ich. »Aber es ist auch zu lesen, dass sie mit der großen Flut ausgelöscht wurden.«
Nathan trat zu mir und beugte sich über den Schreibtisch. Ich hörte auf, mir die Schläfen zu reiben, ließ meine Hände sinken – und dann lagen sie plötzlich, ganz unerwartet, in seinen. Ein Adrenalinstoß durchfuhr mich, als er meine Hände drückte, angenehm und unerträglich zugleich. Hellwach fühlte ich mich, jede Faser meines Körpers zum Zerreißen gespannt. Abrupt zog ich meine Hände zurück, woraufhin auch er verlegen zurückwich.
»Das, was in der Bibel steht, in den apokryphen Schriften, in anderen Texten, in Legenden und Märchen«, begann er leise, »das alles darfst du nicht wortwörtlich nehmen. Es ist der Versuch jener Menschen, die von unserer Existenz ahnten, das Unbegreifliche zu erklären, nämlich dass es zwei Rassen auf dieser Welt gibt.«
»Die Sterblichen und die Unsterblichen«, sagte ich.
»Im Buch Henoch wird diese Tatsache mit dem Fall der Engel erklärt, die das Paradies bewachen sollten, sich jedoch verführen ließen und Mischwesen in die Welt setzten«, fuhr Nathan fort. »Diese waren so gefräßig, dass sie zunächst die Ernte der Menschen verschlangen und sich dann, als nichts mehr davon übrig war, über die Menschen hermachten, ihr Fleisch aßen, ihr Blut tranken. Auch die Menschen begannen nun nach ihrem Beispiel, Fleisch zu essen, und – was den noch größeren Sündenfall darstellt – nach dem Besitz des anderen zu gieren. Auf diese Weise entstand die Ungerechtigkeit auf der Welt. Natürlich ist das nur ein Mythos, doch wie in jedem Mythos steckt ein Fünkchen Wahrheit darin. Was damals wirklich geschehen ist, ahnen wohl nur die Alten – jene Nephilim, die seit Urzeiten auf der Welt leben. Ich hingegen bin erst viel später geboren worden, und das Einzige, was ich weiß, ist, dass in der langen Geschichte der Menschheit etwas schiefgegangen ist. Dass es Wesen … dass es Kreaturen gibt, die nicht sterben können, und dass das nicht sein darf. Wir sind ein Missgriff der Natur, ja, genau das sind wir! Es dürfte uns … es dürfte mich eigentlich nicht geben … «
Immer abfälliger wurde seine Stimme, immer verächtlicher.
»Nathan!«, stieß ich aus.
Eben noch hatte ich ihn losgelassen, als würde mich seine Berührung verbrennen, doch nun konnte ich gar nicht anders, als mich aufzurichten, ihm mit meiner Hand über die Stirn zu streichen, nicht liebevoll, eher prüfend. Seine Haut war glatt wie Marmor, aber fühlte sich so warm an wie die eines jeden Menschen.
»Nathan … «, sagte ich wieder, diesmal kaum lauter als ein Raunen.
Er entzog mir sein Gesicht. Im Gegensatz zu seinen Worten, die mich zutiefst befremdeten, war mir der verzweifelte, rastlose, melancholische Ausdruck, der nun in seine Züge trat, zutiefst vertraut. Auch damals in Salzburg hatte sich dieser Ausdruck immer wieder in sein Gesicht geschlichen und mich verwirrt.
»Ja«, bekräftigte er, »es dürfte mich nicht geben.«
»Aber … «
»Alle Geschichten über unseren Ursprung beweisen doch eines«, unterbrach er mich. »Dass irgendjemand einen Fehler gemacht hat, einer Versuchung erlegen, nicht standhaft geblieben ist. Dass zwei Wesen sich vereinten, die einander hätten fernbleiben sollen. Die Welt gehört den Menschen, nicht uns Mischwesen, nicht mir … Ich habe nur so lange eine Daseinsberechtigung, bis unser Auftrag erfüllt ist.«
»Welcher Auftrag?«
Er trat von mir zurück und begann wieder hin und her zu laufen.
»Es ist etwas kompliziert, aber ich werde versuchen, es dir Stück für Stück zu erklären«, sagte er. »Wie gesagt, nicht alle Nephilim sind böse. Es gibt vielmehr zwei Arten von ihnen. Es gibt solche wie mich, die Hüter oder Wächter, die ein ganz bestimmtes Ziel verfolgen, nämlich die Menschen zu beschützen und den Fehler unserer Vorväter wiedergutzumachen. Und es gibt die anderen – im Buch
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