Der Kuss des Morgenlichts
wahrhaben wollen. Aber seit Caspar und die Seinen aufgetaucht sind, ist es dafür zu spät. Aurora steht längst im Mittelpunkt eines … eines … eines … «
»Eines was?«
Er seufzte. »Eines uralten Kampfes.«
Jetzt waren sie am Scheideweg angekommen. Nun gab es kein Womöglich, kein Vielleicht, kein Irgendwann mehr. Kein Zaudern, kein Aufwärmen, kein Warten.
Nur ein Entweder-Oder.
Bald würde Sophie die ganze Wahrheit kennen, und dann würde auch die Entscheidung fallen.
Er wich von den hohen Glasfenstern zurück, als er sah, wie Nathan mit ihr im Haus verschwand.
Schmerz breitete sich in seiner Brust aus, als Nathan sanft ihren Arm berührte – der gleiche unerträgliche Schmerz wie früher, als die beiden miteinander geredet und gelacht, sich geküsst und sich geliebt hatten, der gleiche unerträgliche Schmerz, wenn er daran dachte, dass Nathan Auroras Vater war, nicht er. Aber er hatte dem Schmerz nie nachgegeben, und er tat es auch jetzt nicht. Nathan hatte Aurora gezeugt – aber er würde sie zu seinem Kind machen.
Er stieß einen schrillen Pfiff aus, und seine Diener eilten sofort hervor.
Wie willige Hunde sind sie, dachte er voller Verachtung.
Er mochte keinen einzigen von ihnen. Sie widerten ihn ähnlich an wie das Menschenpack, das dumme, schwache, dreiste, stinkende Menschenpack. Einzig Frauen wie Sophie, die zu den Auserwählten zählten, waren davon ausgenommen.
Er verachtete seine Diener für ihre Erregung, die ihre Gesichter verzerrte, für dieses Glühen und Beben, für diese hungrige Vorfreude auf den Krieg.
Ihm selbst war diese Erregung fremd, die Lust zu zerstören, der Rausch zu töten, die Gier nach Blut. Einst hatte ihn sein Vater zur Waffe prügeln müssen.
Was er jedoch gut kannte, war das Verlangen nach Rache – einer wohlüberlegten, wohlgeplanten Rache. Nicht Auswuchs einer momentanen Raserei, sondern tiefes Bedürfnis, das alte Gleichgewicht herzustellen und Nathan gleichen Schmerz zuzufügen wie dieser einst ihm.
Nachdem sich der Kreis seiner Vertrauten um ihn geschart hatte, blickte Caspar von Kranichstein jedem tief in die Augen. Er lächelte schief.
»Es ist soweit. Heute wird es beginnen«, sagte er zu seinem Gefolge.
VIII .
Wir waren in mein Arbeitszimmer gegangen, wo ich hinter uns die Tür verschlossen hatte. Nathan war ans Fenster getreten, während ich an meinem Schreibtisch Platz genommen hatte. Ich schob Laptop und Bücher zur Seite, stützte meine Ellbogen darauf und rieb meine Schläfen. Die Schmerzen in meinem Nacken hatten nachgelassen – dennoch hatte ich das Gefühl, mein Kopf würde bersten, würde all das, was auf mich einstürmte, unmöglich fassen können.
Mir lagen so viele Fragen auf der Zunge, dass ich mich für keine entscheiden konnte und stattdessen Nathan zusah, wie er in dem achteckigen Raum unruhig auf und ab schritt. Er hatte versprochen, mir alles zu erklären, doch nun machte er keinerlei Anstalten, schien vielmehr zu zögern.
Schließlich ertrug ich das Schweigen nicht länger. »Im Buch Henoch steht, dass die Nephilim bösartige Wesen sind«, stieß ich aus. »Auf Zerstörung und Unterdrückung aus, gierig und ungerecht, eine gefräßige, mörderische Brut.«
Nathan blieb stehen und sah mich entsetzt an.
»Du hast doch keine Angst vor mir?«, rief er und fügte flehentlich hinzu: »Bitte nicht! Das würde ich nicht ertragen.«
Sein trauriger Blick setzte mir zu und ließ kurz meine harte Fassade erweichen, hinter der ich mich verschanzt hatte. Doch ich konnte dem Anflug von Nähe und Mitleid, dem Bedürfnis, ihn zu trösten, zu beschwichtigen, nicht nachgeben. Würde ich nur ein wenig Wärme zulassen, so war ich mir sicher, würde ich zugleich an all dem Rätselhaften verrückt werden.
»Du hast mich damals verlassen«, entgegnete ich darum kalt und distanziert, »ich dachte, es sei dir egal, was ich über dich denke.«
»Aber genau das Gegenteil ist doch der Fall!«, sagte er schnell, »ich dachte, du könntest dir jetzt denken, warum ich damals gehen musste. Doch nicht, weil du mir gleichgültig warst! Sondern weil ich dich beschützen musste! Dich und auch Aurora!«
»Vor was beschützen? Vor diesem … Kampf, den du erwähnt hast? Davor, einem dieser bösartigen, gierigen, grausamen Wesen zum Opfer zu fallen? Einem Wesen wie dir oder Cara, die ihr keine Menschen seid, sondern … Nephilim?«
Wieder brachte ich das Wort nur schwer über meine Lippen.
Nathan senkte seinen Blick. »Nicht alle Nephilim sind böse«,
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