Der Kuss des Morgenlichts
austrocknen.
»Als sich die Menschen über die Erde hin zu vermehren begannen und ihnen Töchter geboren wurden, sahen die Gottessöhne, wie schön die Menschentöchter waren, und sie nahmen sich von ihnen Frauen, wie es ihnen gefiel. In jenen Tagen gab es auf der Erde die Riesen, und auch später noch, nachdem sich die Gottessöhne mit den Menschentöchtern eingelassen und diese ihnen Kinder geboren hatten. Das sind die Helden der Vorzeit, die berühmten Männer.«
Mehrmals las ich die Textstelle, aber ich wurde nicht schlau daraus. Ich setzte mich aufs Sofa, legte die geöffnete Bibel neben mich und griff nach dem Telefon. Als ich nach Auroras Geburt das Studium der Musikwissenschaften begonnen hatte, hatte ich die Nähe zu den anderen Studenten nicht gesucht. Doch einmal hatte ich eine Seminararbeit gemeinsam mit einem Kirchenmusiker geschrieben und seither unregelmäßigen Kontakt zu ihm gehalten. Manchmal war er mir bei meinen Musikerbiographien behilflich. Er war begeisterter Organist und hatte seine Diplomarbeit über die theologischen Hintergründe irgendeiner Bachkantate geschrieben.
Schon nach dem ersten Läuten ging er ans Telefon und wirkte ziemlich erschrocken, als er »Hallo?« in den Hörer bellte.
»Es tut mir leid, dass ich so spät störe.«
»Wer spricht da?«, fragte er hektisch.
»Sophie … Sophie Richter.«
»Mein Gott! Weißt du, wie spät es ist?«
»Es tut mir leid«, wiederholte ich. »Ich wollte dich nicht wecken.«
Er seufzte übertrieben; er war immer ein theatralischer Mensch gewesen, der jede Gefühlsregung regelrecht zu zelebrieren schien. »Du hast mich nicht geweckt. Aber wenn mitten in der Nacht das Telefon klingelt, glaubt man, dass etwas Schreckliches passiert ist.«
»Ich habe nur eine kurze Frage.« Ich wusste gar nicht, wie spät es war. Ich hatte jedes Zeitgefühl verloren.
»Schieß los!«, knurrte er unwillig, aber irgendwie auch geschmeichelt, dass ich seine Hilfe brauchte.
»Es geht um Folgendes«, begann ich und erklärte in knappen Worten, dass ich inmitten von Recherchen stecken würde. Ich müsste mehr über die Nephilim erfahren, jene Wesen, von denen offenbar im Buch Genesis berichtet werde.
Wieder seufzte er ausgiebig. »Ich dachte, du schreibst Musikerbiographien.«
»Weißt du etwas darüber?«
Meine Stimme geriet krächzend. Meine Nerven waren so angespannt, dass ich das Gefühl hatte, jeden Augenblick in Heulen oder Gelächter oder beides auszubrechen. Während ich mit ihm telefonierte, glitt mein Blick mehrmals zur Tür, irgendwie hatte ich Sorge, erneut ertappt zu werden. Von Aurora? Vielleicht von jemand anderem?
Das Bild von Caspar und Nathan erschien vor meinem inneren Auge, wie sie so unglaublich schnell und geschmeidig und zugleich brutal und voller Hass aufeinander losgegangen waren …
Ich bemühte mich, ruhig zu atmen.
»Also … «, setzte der Kirchenmusiker an – ich nannte ihn immer so, aber eigentlich hieß er Martin Schmitzke. »Die Nephilim … Im Buch Genesis werden sie am Anfang des sechsten Kaptitel erwähnt.«
»So weit bin ich auch schon gekommen. Ich habe eine Bibel hier vor mir liegen. Aber auf den Namen Nephilim bin ich nicht gestoßen.«
»In der Einheitsübersetzung ist von den ›Riesen‹ die Rede. Aber im ursprünglichen Text steht an dieser Stelle der Begriff ›Nephilim‹. Er stammt vom hebräischen Wort ›nephal‹, was so viel heißt wie ›fallen‹. Nephilim – das sind ›die Gefallenen‹. Offenbar bezieht sich der Text in der Genesis auf einen alten babylonischen Mythos. Die Bibel steckt voller Verweise auf außerjüdische Traditionen und Kulturen. Wahrscheinlich ist diese Textpassage von Jahwisten verfasst worden.«
»Von wem?«
»Jahwisten nennt man jene Autoren, die die ältesten Texte des Alten Testaments aufgeschrieben haben – etwa im 9. Jahrhundert. Die Bücher oder Passagen des Alten Testaments, die später entstanden, werden – je nachdem, welchen Gottesnamen sie benutzten – als Schriften der Elohisten oder als Priesterschriften bezeichnet.«
Er klang belehrend und zugleich ziemlich stolz, dass er sein Wissen unter Beweis stellen konnte.
»Dieser Mythos besagt also, dass es neben der menschlichen Rasse noch andere Wesen auf dieser Erde gibt«, sagte ich langsam.
»Genau. Nämlich die Kinder der Gottessöhne und der Menschentöchter, also Mischwesen. Sie waren unsterblich, sind laut Bibel allerdings mit der großen Flut vernichtet worden. Außerhalb von der Genesis gibt es noch
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