Der Kuss des Morgenlichts
sämtliche meiner Glieder steif angefühlt, nun ergriff mich tiefe Unruhe, ja Hektik. Ich hob fast anklagend die Bibel.
»Wir müssen reden … «, erklärte ich. »Ich lasse mich nicht mehr wie eine Verrückte behandeln. Ich will jetzt endlich alles wissen, und … «
»Du hast recht«, unterbrach sie mich. Vorsichtig ergriff sie meine Schultern. »Sophie, du hast wirklich recht. Es war nicht richtig, es dir zu verschweigen. Ich habe es nur getan, weil Nathan mich darum gebeten hat. Aber selbst er sieht mittlerweile ein, dass er dir nicht länger die Wahrheit vorenthalten kann.«
Ihre offenen Worte nahmen mir den Wind aus den Segeln. Solange ich verärgert und empört sein konnte, weil die beiden ein Geheimnis vor mir wahrten, war ich entschlossen, es zu lüften. Jetzt schauderte ich bei dem Gedanken, endgültig die Wahrheit zu erfahren.
»Der Kampf … «, brach es aus mir hervor. »Was ich gestern in eurem Garten gesehen habe … wie Caspar und Nathan aufeinander losgingen … Nathan behauptet, es sei nur ein Traum gewesen … und dass ich ohnmächtig geworden sei … aber ich habe es doch gesehen!«
»Nathan ist hier.« Sie deutete mit ihrem Kinn Richtung Tür. »Er wartet draußen auf dich. Wir haben die ganze Nacht darüber diskutiert, aber jetzt ist er bereit, dir alles zu erklären, wirklich alles. Ich finde, es ist seine Aufgabe, nicht meine.«
Sie ließ mich los. Ihr angespannter Blick wurde mitfühlend.
Auf dem Weg nach draußen fuhr ich mir mit den Händen mehrmals durchs Haar; mein Gesicht fühlte sich klebrig an, in meinem Mund schmeckte es immer noch gallig, meine Augen waren verquollen und brannten. Als ich ins Freie trat, galt mein erster Blick nicht Nathan, der am Gartentor gelehnt stand, sondern Caspars Anwesen hoch oben am Berg.
Ich weiß nicht, was genau ich erwartete – vielleicht ein sichtbares Zeichen für das, was gestern passiert war. Doch das weiße, moderne Gebäude mit den großen Glasfenstern und dem flachen Dach lag unverändert inmitten des Waldes. Die Luft war klar, nur über dem See hockte noch Nebel und ließ ihn einer dampfenden Suppe gleichen.
Ich massierte meinen schmerzenden Nacken, während ich zögerlich auf Nathan zutrat.
»Sophie … «
Er hielt seine Augen gesenkt, seine Stimme klang rau.
»Wer bist du?«, fragte ich. Ich biss mir auf die Lippen, um mich gleich darauf zu korrigieren: » Was bist du?«
»Sophie … « Er seufzte, klang unendlich erschöpft. »Sophie, es tut mir unendlich leid … ich würde dir das alles gerne ersparen, glaub mir. Aber du weißt schon so viel. Du weißt zu viel.«
»Ja«, sagte ich, »ja, ich weiß es … ich weiß von den … Nephilim.« Es fiel mir schwer, das Wort auszusprechen. Endlich hob er seinen Kopf und richtete seine blauen Augen durchdringend auf mich.
»In der Bibel steht, es seien Riesen. Du aber bist doch kein Riese! Und Caspar auch nicht!« Plötzlich musste ich kichern; sämtliche Nervosität entlud sich in diesem schrillen, unnatürlichen Laut.
»Sophie, am besten du setzt dich, dann werde ich dir in Ruhe alles erklären … «
»Dann ist es also wahr. Du bist kein Mensch. Du bist einer dieser … dieser … «
Ich konnte es kein zweites Mal sagen, und auch er tat es nicht, nickte nur langsam.
»Caspar von Kranichstein auch«, stellte ich fest. »Und Cara? Ist Cara auch …?«
Wieder nickte er nur. Mein Mund wurde trocken.
»Lass uns hineingehen«, murmelte er, »lass mich dir in Ruhe erzählen, was … «
Eben noch war ich zu allem entschlossen gewesen – entschlossen, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen und sie notfalls mit aller Macht zu ertrotzen, doch als er die Hand hob und vorsichtig über meinen Oberarm streichelte, überkam mich nackte Angst. Solange er mein wirres Gerede nicht bestätigte, blieb es genau das: wirr, verrückt, Ausgeburt einer überreizten Phantasie.
Ich zuckte zurück, und als er zu reden anhob, unterbrach ich ihn schrill: »Nein, warte! Bevor du etwas sagst, will ich eines wissen: Gibt es eine Möglichkeit, Aurora aus dieser Sache herauszuhalten? Muss ich tatsächlich alles erfahren? Oder kann ich nicht einfach mit ihr von hier fortgehen, so, als wäre nichts geschehen?«
Er senkte seinen Blick; eine tiefe Falte zerfurchte seine glatte, weiße Stirn.
»Du meinst, ob du davor fliehen kannst?« Er schüttelte den Kopf, und als er den Blick hob, war er unendlich traurig. »Nein, leider nicht. Ich habe es mir so gewünscht, es bis zuletzt gehofft und es bis heute Morgen nicht
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