Der Kuss des Morgenlichts
anhören? Aber das hatte ich vorhin im Auto schon an die zehn Mal getan, ohne mehr zu verstehen als dieses halb genuschelte Felim.
Vielleicht, überlegte ich, könnte ich die Aufnahme in ein Tonstudio bringen, so dass sie genau analysiert würde. Aber damit müsste ich bis morgen früh warten.
Filim. Felim.
Mir fiel ein, dass ich es mit einer anderen Schreibweise versuchen könnte.
Philim.
Als ich die ersten Buchstaben eintippte, hörte ich hinter mir plötzlich tapsende Schritte. Ich zuckte zusammen, dann fiel vom Türschlitz her Licht ins Zimmer. Die Klinke wurde heruntergedrückt, langsam öffnete sich die Tür. Aurora stand mit nackten Füßen vor mir. Ihre Haare glänzten im Schein der Flurlampe rötlich, ihre Züge aber lagen im Dunkeln.
Wieder hatte ich das Gefühl, etwas Verbotenes zu tun, vor allem als ihr Blick, der zuerst starr auf mich gerichtet gewesen war, auf den Laptop glitt. Ob sie aus dieser Entfernung sehen konnte, nach welchem Wort ich suchte?
Hastig klappte ich den Laptop zu und rang mir ein Lächeln ab.
»Warum schläfst du denn nicht, Schatz?«
Sie stützte ihre Hände am Türrahmen ab und stellte sich auf die Zehenspitzen. Ich war mir nicht sicher, ob es wegen des kalten Fußbodens war, oder weil sie angespannt war.
»Du warst bei Nathan«, stellte sie fest.
Ich zuckte zusammen. Sie hatte den Namen genannt. Seinen Namen. War sie ihm begegnet? Wusste sie, wer er war? Ihr Vater … nein … der Mann, der nicht nur mich, sondern auch sie vor sieben Jahren ohne Erklärung im Stich gelassen hatte.
»Wir reden morgen darüber, ja? Geh jetzt bitte ins Bett!« Mein Tonfall wurde schärfer.
Sie ließ die Fersen wieder auf den Boden sinken und drehte sich langsam um. Dann, als sie schon drei Schritte gemacht hatte, blickte sie über ihre Schulter.
»Nephilim«, sagte sie plötzlich. »Wir heißen … Sie heißen Nephilim.«
Ich starrte sie an, und ein eisiger Schauer lief mir über den Rücken. Aurora war mir in den letzten Wochen oft unheimlich gewesen, und dieses Unbehagen spürte ich jetzt wieder. Doch es kam noch etwas anderes dazu – das Gefühl, ausgeschlossen zu sein. Sie wusste, worüber Nathan und Cara sprachen. Ich nicht.
»Was meinst du?« Meine Stimme klang unecht.
»Du wolltest doch eben etwas herausfinden. Über die Nephilim.«
Ich öffnete den Laptop wieder, allerdings nur, um ihn demonstrativ herunterzufahren. Hastig stand ich auf. »Ich wollte nur etwas für mein Buch recherchieren. Aber das kann ich auch morgen noch machen. Eigentlich bin ich müde.«
Ich streichelte über ihr Haar, doch sie entzog sich mir und lief zurück in ihr Zimmer. Ich folgte ihr bis zu ihrer Tür. Von dort sah ich zu, wie sie ins Bett stieg und sich ihre Decke bis zum Kinn zog. Zwiespältige Gefühle überkamen mich – einerseits war das Bedürfnis so stark, mich zu ihr zu setzen, ihr einen Gute-Nacht-Kuss zu geben. Andererseits war ich viel zu erschüttert, um ihr näher kommen zu können. Solange ich sämtliche Gefühle verdrängte, konnte ich mich beherrschen, doch wenn ich nur einem Gefühl nachgab und sei es meiner ängstlichen Liebe für Aurora, würde ich dem unerträglichen Druck nicht standhalten.
Unruhig trat ich von einem Bein auf das andere.
»Ich mache das Licht aus«, sagte ich, »dann kannst du schlafen.«
Ich hatte die Tür schon halb geschlossen, als sie sich plötzlich wieder aufsetzte.
»Wenn du mehr über die Nephilim erfahren willst, dann lies in der Bibel nach. Buch Genesis, Kapitel sechs, Vers vier.«
Wie vorhin tastete ich mich auch jetzt im Finstern durch den Flur. Erst als ich das Wohnzimmer erreicht und die Tür hinter mir geschlossen hatte, machte ich das Licht an. Vielleicht wäre es einfacher gewesen, den Computer wieder hochzufahren und jetzt das Wort »Nephilim« zu googeln, doch mir war eingefallen, dass sich unter den Unmengen an Büchern meines Vaters auch eine Bibel befand. Ich zog sie aus dem Regal. Sie wirkte abgegriffen, und ihr Einband war brüchig. Hatte mein Vater so oft in ihr gelesen? Oder hatte er ein besonders altes Exemplar besessen, das schon durch viele Hände gegangen war?
Ich war keine Expertin in Sachen Heilige Schrift, aber ich wusste, dass die Genesis das erste Buch war. Ich blätterte, bis ich das sechste Kapitel aufgeschlagen hatte; fast hatte ich das Gefühl, als würde eine dicke Staubwolke aus den Seiten aufsteigen und mich einhüllen. Hastig leckte ich mir die Lippen – als würde der Staub in meine Kehle wandern, sie
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