Der Kuss des Verfemten
Augen.
»Jetzt wirst du ihn streicheln, liebkosen, küssen, mit deinen Händen, mit deinen Lippen, so lange, bis ich sage, es ist genug. Dann darfst du dich etwas ausruhen, bis ich sage, du sollst weitermachen. Du kennst das Spiel?«
Schluchzend nickte sie.
»Also, fang an! Und mach endlich die Augen auf!«
*
Isabella und Mathilda schlenderten Seite an Seite durch das bunte Gewimmel. Isabella hatte den drei anderen Mädchen frei gegeben, damit sie den bunten Gauklern auf der Wiese vor der Burg zuschauen konnten. Mathilda mochte sie nicht begleiten. Sie trottete mit gesenktem Kopf neben ihrer Herrin her.
»Mathilda, was ist los mit dir? Freu dich doch an all den schönen Dingen, schau, diese herrlichen Bänder und Garne! Sogar goldenes Stickgarn ist dabei! Oder such dir einen hübschen Mann aus! Es gibt so viele davon, du brauchst nur zuzugreifen!« Sie legte freundschaftlich ihren Arm um Mathildas Schultern. Mathildas Missstimmung störte sie und trübte ihre Vorfreude auf das morgige Turnier.
Mathilda senkte den Kopf und knetete ihre Finger durch.
»Vielleicht kehre ich doch ins Kloster St. Martin zurück«, sagte sie mit stockender Stimme. »Keinesfalls möchte ich heiraten.«
»Aber warum bist du plötzlich so verzagt?«
»Um mich wird kein Ritter kämpfen, auch wenn mein Vater selbst ein Ritter war«, sagte sie kläglich. »Und dann werdet Ihr mir irgendeinen Mann zuweisen, der mich auch ohne eine Mitgift nimmt. Doch welcher ehrbare Mann nimmt schon ein armes, mittelloses Mädchen? Nein, nein, die Ehe ist doch nur die Legitimation für einen Mann, sich seine Frau zu Willen zu machen, sich ihres Körpers zu bedienen, wann immer er Lust darauf verspürt. Ohne Rücksicht auf Gefühle oder Leiden! Er schwängert sie unter Scham und Demütigung, und unter Schmerzen muss sie ihm die Kinder gebären. Oh, wäre ich nur im Kloster geblieben! Es ist die bessere Alternative, die einem Mädchen bleibt.«
Isabella starrte sie mit offenem Mund an und befeuchtete aufgeregt mit der Zungenspitze ihre Lippen. Gleichzeitig dachte sie wieder an den nackten Jungen in der Herberge. Hatten die beiden Scham und Demütigung empfunden? Sie erinnerte sich an den glücklichen Gesichtsausdruck der Magd, als der Junge ihr beiwohnte.
»Das haben uns die Nonnen erzählt, dass es so sei«, sagte Isabella. »Doch woher wollen es die Nonnen so genau wissen?«
Mathilda schluckte. »Ich weiß es nicht.«
»Eben! Sie können nicht wissen, wie es ist, mit einem Mann zusammen zu sein, weil sie es nie getan haben! Doch uns wollen sie es vergraulen.«
Mathilda hob abwehrend die Hände. »Ich habe keine Lust, es auszuprobieren«, gestand sie kleinlaut.
Isabella schaute sie an, und ihr Blick schien die Zofe zu durchdringen. »Ich schon!«
»Ihr versündigt Euch«, stammelte Mathilda und bekreuzigte sich.
Isabella konnte Mathildas Gejammer nicht mehr ertragen, so wie sie auch all die vielen fremden Menschen plötzlich nicht mehr ertragen konnte. Es war beste Absicht des Herzogs, Isabella von ihrem Kummer und den Gedanken an das schreckliche Geschehen abzulenken, doch das Gewimmel ängstigte sie. Nach der Stille und Abgeschiedenheit ihres klösterlichen Lebens hatte sie sich auf das bunte und lustige Leben am Hofe ihres Vaters gefreut. Jetzt aber störten sie die vielen lauten und lustigen Menschen in ihren Gedanken an jenen Ritter in der nicht fassbaren Gestalt.
Immer mehr glaubte sie, dass er eine silberne Rüstung trug, die im Licht der Sonne überirdisch funkelte, dass seine Augen die Abbilder tiefer Seen waren, die einsam in den Bergen lagen, und dass er einem Engel gleich sie beschützen würde, wo immer sie sich auch befand. Es war kein Ritter aus Fleisch, Blut und Eisen. Er war ein Produkt ihrer Fantasie, ihrer Wunschträume.
Diese Erkenntnis schmerzte sie, doch gleichwohl hielt sie verbissen daran fest. Es war ein tröstlicher Gedanke in diesem Meer der Unsicherheit, in diesem Gewimmel aus fremden Körpern, Blicken, Begierden. Denn dass alle begierig darauf waren, die Hand von Isabella erringen zu können, war sonnenklar. Sechzig Ritter hatten sich dazu eingefunden. Die meisten lebten ohnehin ständig in der Nähe ihres Vaters, des Herzogs, um im Bedarfsfall für ihn zu kämpfen oder ihn zu beraten. Der Herzog war ihr oberster Herr, den letzten Befehl gab er. Doch Isabella hatte bereits mehr als einmal verspürt, dass die Ritter den alternden Herzog wie einen Hund an der Leine hielten und ihn dahin dirigierten, wohin sie ihn
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