Der Kuss des Verfemten
gibt noch so viele hübsche und edle Ritter und Sänger, lasst sie uns alle anschauen!«, rief Sieglinde und sprang auf. Die anderen erhoben sich ebenfalls und wandten sich zum Ausgang der Weinlaube. Im gleichen Augenblick gab es hinter ihnen einen lauten Knall, und Steinsplitter flogen in alle Richtungen. Die Mädchen kreischten auf und fuhren entsetzt herum. Unmittelbar neben ihnen war ein Teil der mächtigen Zinne herabgefallen und auf dem Pflaster zersplittert.
»Gütiger Himmel!«, hauchte Isabella und schaute nach oben, wo die halbe Zinne wie ein abgebrochener Zahn in den Himmel ragte. »Das hätte unser Tod sein können!«
»Habt Ihr Euch verletzt, Prinzessin?«, fragte Rosamunde besorgt, aber auch ihr klapperten die Zähne von dem Schreck.
»Nein, nein, es ist alles in Ordnung«, beschwichtige Isabella die aufgeregten Mädchen. »Uns ist zum Glück nichts passiert. Ich werde es meinem Vater, dem Herzog, noch heute sagen, dass er die Zinnen kontrollieren lassen soll. Offensichtlich liegt auch hier einiges im Argen.«
Einen Augenblick standen sie noch schweigend da und blickten betroffen auf die Steinsplitter.
»Lasst uns gehen«, wiederholte Sieglinde. Die anderen folgten ihr und hatten den kleinen Zwischenfall schon bald wieder vergessen.
Als sie sich entfernt hatten, erhob sich hinter der kaputten Zinne die bucklige Gestalt von Belén. Er zog den Kopf ein und würde es nicht wagen, in den nächsten Stunden seinem Herrn unter die Augen zu treten.
*
Mit fliegendem Atem und zitternden Händen wühlte Gunilla in den Truhen und Schreinen der Frauengemächer. Kleider, Stoffe, Tücher, Decken, Teppiche, Kissen, Vorhänge – was brauchte eine Frau nur alles! Gab es denn keine Schatullen, kleine Truhen, Kästchen? Keines, das sie fand, glich dem, das der Fremde ihr beschrieben hatte und das er unbedingt haben wollte. Ratlos blickte sie sich um. Allerdings waren zwei der Schreine abgeschlossen. Sie waren alt und verstaubt und standen im hintersten Winkel der letzten Kammer. Sie schienen seit langer Zeit nicht geöffnet worden zu sein. Doch wo sollte sie die passenden Schlüssel dazu finden? Sie blickte in die herumstehenden Töpfe, Schüsseln und Körbe. Nirgendwo konnte sie einen Schlüssel entdecken.
Sie hörte Stimmen auf dem Gang. Die Damen kamen zurück, übermütig lachend und schwatzend. Gunilla presste sich hinter die Säule, doch es war zu spät, die Gemächer zu verlassen. Margarete riss die Tür auf und ließ sich aufstöhnend auf ihr Lager fallen. »Meine Füße bringen mich um!«, klagte sie lautstark.
Die anderen lachten. »Weil du ständig diesem Kastraten hinterhergelaufen bist. Dabei schaut er doch gar nicht nach Frauen«, scherzten sie.
»Macht nicht solche Witze über diesen unglücklichen Menschen!«, rügte Isabella.
»So unglücklich sah er aber gar nicht aus«, erwiderte Mathilda. Sie legte ihren Schleier ab und öffnete die Spange ihrer Tunika, die sie über dem dunkelgrünen Kleid trug. Es war warm, und sie sehnte sich nach leichterer Kleidung. Sie schlenderte hinüber in die benachbarte Kammer, wo die Truhen mit den Kleidern standen – und stieß einen Schrei aus. Die anderen Mädchen sprangen erschrocken auf.
»Gunilla, Himmel, habt Ihr mich aber erschreckt!« Mathilda presste ihre Hand auf die Brust und winkte den anderen erleichtert. »Es ist Gunilla!«
Isabella runzelte die Brauen. »Gunilla? Was tut Ihr hier?«
»Verzeihung, Hoheit!« Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Ich suchte Euch, um mich mit Euch zu unterhalten. Aber … aber Ihr wart nicht da. Ich wollte gerade gehen …«
»Ist Euch nicht gut? Ihr habt rote Flecken im Gesicht. Warum versteckt Ihr Euch hinter der Säule?« Isabella erhob sich und trat auf die Frau zu.
»Nein, nein, es ist schon wieder gut. Mir wurde nur etwas schwindlig, und ich habe mich an die Säule gelehnt. Verzeiht, ich will Euch nicht stören, Ihr seid müde von diesem Tag.«
Sie deutete eine Verbeugung an und huschte zur Tür hinaus.
Die Mädchen blickten ihr misstrauisch nach. »Die ist aber komisch!«, platzte Sieglinde heraus.
»Das finde ich auch«, bestätigte Rosamunde. »Und irgendwie unheimlich!«
»Unsinn, das bildet ihr euch nur ein! Sie ist zu bedauern, weil sie immer so allein ist. Ihr Gatte ist seit einem Jahr in Italien, und es schickt sich nicht, dass sie ihr Vergnügen allein sucht. Ich habe mich mit ihr sehr nett unterhalten, und ich möchte ihr gern helfen. Wir hätten sie in unsere Mitte aufnehmen und mit ihr den
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