Der Kuss des Verfemten
weither, sie hörte Gesang, Harfen und Lauten, dann Lachen und Pferdegetrappel. Jemand schaute sie an, und als sie sich umdrehte, stand ein Ritter in silberner Rüstung vor ihr. Erfreut wollte sie auf ihn zueilen, aber ein anderer hielt sie zurück. Es war Gundram, der in seinen rot und weiß geteilten Waffenrock mit dem in entgegengesetzten Farben geteilten Stierkopf gekleidet war. Darunter funkelte sein Kettenhemd. Waren das die silbernen Sterne, die sie gesehen hatte?
Sie wollte sich von Gundram losreißen und dem silbernen Ritter zueilen, der still und unheimlich dastand. Lachend öffnete Gundram einen kleinen Lederbeutel, den er an der Hüfte trug, und holte etwas heraus. Er öffnete die Handfläche, und Isabella sah mit Entsetzen, dass es zwei blaue Augen waren! Sie schrie auf und riss sich von ihm los. Sie streckte die Arme nach dem silbernen Ritter aus, doch als sie die Rüstung berührte, fiel sie scheppernd um. Blut sickerte darunter hervor.
»Schau nach!«, höhnte Gundram. Mit zitternden Fingen klappte Isabella das Visier hoch und prallte zurück. In der Rüstung steckte die tote Gunilla, das Gesicht kalkweiß, mit einem Pfeil, der ihre Wangen durchstoßen hatte. Mit einem gellenden Schrei erwachte Isabella.
»Um Gottes willen, was ist denn los?«, fragte Mathilda schaudernd.
Isabella bebte am ganzen Körper, und die Dunkelheit trug dazu bei, ihre Panik zu verstärken. »Ich werde verrückt hier!«, keuchte sie.
Mathilda legte die Arme um sie und zog sie wieder unter die dünne, klamme Decke.
»Dann gib dir doch einen Stoß und bitte Gundram um Hafterleichterung. Vielleicht kannst du wenigstens eine halbe Stunde draußen spazieren gehen und die Sonne sehen.«
Verzagt nickte Isabella. Die Zeit wollte nicht vergehen, und sie hoffte auf die ersten Sonnenstrahlen des Morgens, die ein spärliches Licht durch die winzige Scharte hoch oben im Verlies warf. Dann würde auch der alte Wärter kommen, um ihnen Wasser und Brot zu bringen, das karge Mahl, das ihnen Gundram zugestand.
Endlich knirschte der Schlüssel im Schloss, und der griesgrämige Alte schlurfte herein. Er trug ein Tablett mit einem Krug, zwei Bechern und einem Teller mit zwei Stückchen Brot und Käse darauf.
»Frühstück, meine Damen!«, krächzte er und hustete. Die Kerkerfeuchte hatte seine Lungen zerfressen.
Isabella erhob sich und strich ihr goldenes Kleid glatt. »Ich möchte Ritter Gundram sprechen«, sagte sie zu ihm. »Richte ihm aus, dass ich es mir überlegt habe. Ich möchte mir die Burg ansehen und mich mit ihm über den Termin unserer Hochzeit unterhalten.«
»So, so«, ächzte der Alte zwischen zwei Hustenanfällen. »Ich werd’s ihm sagen, wenn ich ihn sehe.«
»Nein, es ist dringend! Geh sofort zu ihm!«
»Sofort? Am frühen Morgen? Vielleicht ist er auf der Jagd, oder hat noch eine Bettgespielin bei sich! Ich kann ihn nicht einfach behelligen!«
»Er wird dir den Kopf abschlagen lassen, wenn du ihm nicht sagst, was ich dir aufgetragen habe! Deshalb hält er mich ja hier gefangen!«
Hustend schlurfte der Alte wieder raus. Was diese Weiber nur von ihm wollten! In seinem Alter überstürzte man nichts mehr. Vor sich hin schimpfend begab er sich in den Burghof und blickte sich suchend um. Ritter Gundram saß bestimmt beim Frühstück und wollte nicht gestört werden. Und er konnte dann sehr ungemütlich werden. Nein, da hielt man sich besser raus – oder schickte jemand anderen!
»He, Junge, komm mal her!«, rief er mit kratziger Stimme.
Patrick drehte sich erschrocken um. »Meint Ihr mich?«, fragte er. »Ja, wen denn sonst! Mir scheint, du hast nichts zu tun. Du kannst etwas für mich erledigen, du hast jüngere Beine als ich.«
»Und was?«, fragte Patrick und tat so, als langweile er sich tatsächlich gewaltig.
»Geh zu Ritter Gundram und richte ihm aus, dass die Gefangene ihn unbedingt sprechen will.«
»Die Gefangene?«
»Du glotzt wie ein Karpfen auf dem Trockenen!«, schalt der Alte. »Die Prinzessin, die im Kerker sitzt!«
»Im Kerker sitzt eine Prinzessin?« Patrick staunte.
»Oh, was bist du nur für ein Tölpel!« Der Alte hustete. »Nun lauf schon, ehe ich noch das Zeitliche segne!«
»Ich eile!«, rief Patrick und lief hinüber zum Palas. Gundram saß mit seinen engsten Vertrauten um eine kleine Tafel und frühstückte. Unwillig blickte er auf, als Patrick eintrat und sich tief verbeugte. Er behielt den Kopf auch unten, als er dem Ritter ausrichtete, die Gefangene wünsche ihn dringend zu
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