Der Kuss des Verfemten
gezogenem Schwert auf ihn zu.
De Cazeville lehnte mit verschränkten Armen am Türstock und zuckte mit keiner Wimper, als Gundram sich auf ihn stürzen wollte. Verblüfft blieb er stehen und beäugte den Fremden misstrauisch.
»Keineswegs«, entgegnete de Cazeville ungerührt. »Ihr mögt ein ausgezeichneter Kämpfer sein, Eure Muskeln sind sehenswert, aber manchmal braucht man auch etwas Hirn zum Denken.«
»Was erlaubt Ihr Euch?«, schnaubte Gundram. De Cazevilles Lippen verzogen sich zu einem spöttischen Grinsen. Es faszinierte ihn, in das Gesicht zu blicken, das dem Gunillas so ähnelte. Sie waren Zwillinge gewesen, wenngleich Gundram groß und kräftig, sehr männlich und durch die Narbe auf der Wange etwas entstellt war. Gunilla hingegen war kleiner, makellos schön und ausgesprochen fraulich gewesen. Doch er entdeckte in Gundrams Augen das gleiche leidenschaftliche Feuer, das überschäumende Temperament und den unbeugsamen Stolz, den er auch bei Gunilla gesehen hatte.
Er unterdrückte rigoros die in ihm aufkommende Regung bei dem Gedanken an Gunilla. Lässig stieß er sich vom Türrahmen ab und spazierte um Gundram herum. Die Hände hielt er dabei auf dem Rücken verschränkt. Gundram war verblüfft über die Kaltschnäuzigkeit dieses Mannes. Jeder andere wäre vor ihm zurückgewichen, hätte vielleicht in erster Regung zur Waffe gegriffen. Dieser Mann verschränkte die Hände auf dem Rücken! Bei einem Angriff könnte er sich gar nicht verteidigen. Er wusste demnach genau, dass Gundram ihn nicht wirklich angegriffen hätte. Was machte ihn so sicher?
Gundram beschlich ein unbehagliches Gefühl. Es war, als könne dieser Fremde hinter seine Stirn sehen, seine Gedanken erraten. Konnte er vielleicht sogar in seine Seele blicken?
»Euer Kerkermeister ist erstochen worden«, stellte de Cazeville sachlich fest. Seine Stimme blieb unverändert gemessen und ruhig. »Doch keineswegs von den beiden Frauen. Er lag draußen auf seinem Strohsack. Also gab es jemanden, der die Frauen befreite. Jemanden, der bereits hier auf dieser Burg war und der sich bestens auskannte. Denn keiner kommt durch das geschlossene Tor, durch das heruntergelassene Fallgatter, gleich gar nicht über die Mauer. Er kann nur durch einen unterirdischen Gang aus der Burg gelangt sein.«
»Einen unterirdischen Gang? Es gibt keinen hier!«
»Ihr lebt noch nicht lange auf dieser Burg, nicht wahr, Gundram?« In de Cazevilles Augen blitzte es spöttisch. »Es ist Martin von Treytnars Burg.«
»War es«, verbesserte Gundram. »Der Herzog hat mir das Lehen zugesprochen.«
»Vor zwei Jahren, ich weiß. Nachdem Ihr Martin des Mordes bezichtigt habt.«
»Ganz recht. Er hat den Kaiser ermordet!«
De Cazeville warf Gundram einen verächtlichen Blick zu, und Gundram fühlte sich immer unbehaglicher. »Ihr wisst genauso gut wie ich, dass er das nicht getan hat. Dass es keiner getan hat.«
»Ihr scheint sehr viel zu wissen«, entgegnete Gundram kühl. »Wer seid Ihr? Was wollt Ihr?«
De Cazeville unterbrach seine Umkreisungen und blickte ihn scharf an. »Ich mag es nicht, wenn mir so viele Fragen gestellt werden«, sagte er mit eisiger Stimme. »Ich will Euren schwerfälligen Gedanken auf die Sprünge helfen. Diese Burg gehört Martin von Treytnar. Er wurde entrechtet und sinnt auf Rache. Er will sein Lehen zurück, er will rehabilitiert werden. So würde jeder andere Ritter auch handeln. Er kann diese Burg nicht einnehmen, sie ist viel zu gut gesichert. Aber er kennt die Burg, er kennt alle ihre Winkel und geheimen Gänge. Einige seiner Leute dringen in die Burg ein. Doch sie sehen, dass zu viele Männer hier sind. Also nehmen sie sich das, was Euch am wichtigsten ist, Eure Geisel. Martin kann sie in gleicher Weise nutzen, nämlich um den Herzog zu zwingen, ihn zu rehabilitieren.«
Gundram blickte den Fremden mit einer Mischung aus Staunen und Misstrauen an. Da er schwieg, wiederholte de Cazeville geduldig wie zu einem begriffsstutzigen Schüler: »Wem gehörte die Burg? Martin! Wer will sie wiederhaben? Martin! Wer kennt sich hier aus? Martin! Wem nützt Isabella als Geisel? Martin! Ihr braucht nur Martin zu finden, dann habt Ihr auch Isabella!«
»Und wo sich Martin befindet, wisst Ihr nicht zufällig auch?«, fragte Gundram spöttisch. Dass ihm dieser Fremde so eiskalt seine Überlegenheit bewiesen hatte, verursachte in ihm großes Unbehagen. Das war kein Gegner mit Schwert und Muskeln. Dieser Mann bestach durch seinen scharfen Verstand. Und
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