Der Kuss des Verfemten
Forderungen übergibt. Je eher Isabella wieder fort ist, umso besser für uns alle. Sie könnte hier für einige Unruhe sorgen.«
Martin atmete tief durch. Dann klopfte er Rudolf freundschaftlich auf die Schulter. »Du hast gut reden«, sagte er und blickte zu Mathilda hinüber. »Du scheinst damit keine Probleme zu haben. Aber du hast recht. Wie immer!«
Achtes Kapitel
Mathilda war hin und her gerissen zwischen ihrer Pflichtschuldigkeit Isabella gegenüber und ihren eigenen Überlegungen. Sie wunderte sich, dass sie nicht die Angst empfand, die sie in dieser Situation hätte empfinden müssen. Sie waren von einer Gefangenschaft in die andere geraten, und im Augenblick war überhaupt nicht klar, welche Situation die schlimmere war. Die Geduld der sanften Mathilda wurde durch Isabella auf eine harte Probe gestellt. Deshalb nutzte sie immer häufiger die Möglichkeit, sich auf der Burg frei zu bewegen. Sie flüchtete vor Isabella.
Mathilda blickte über den Burghof. Das große Tor stand weit offen, ein Junge trieb einige Schafe nach draußen auf die Wiesen, die sich rund um die Burg erstreckten. Ein wenig hilflos stand sie auf dem Hof. Die Menschen, die meisten in ärmliche Kleidung gehüllt, viele mager und in einem schlechten körperlichen Zustand, grüßten untertänig und lächelten ihr freundlich zu. Sie half einer Magd, zwei Wassereimer an einer Tragestange zu befestigen. Das Mädchen, das fast unter der Last der beiden Eimer zusammenbrach, lächelte ihr dankbar zu.
Mathilda stieg die steile Treppe zum Wehrgang hinauf. Oben wehte ein frischer Wind, und sie ließ ihr offenes rotes Haar wehen. Für einen Moment fühlte sie sich frei, frei vor allem von Isabellas drängender Inanspruchnahme. Sie war nur ihre Zofe, damit hatte sie auch die Launen ihrer Herrin zu ertragen, doch in all den Jahren hatte Isabella keinen Anlass dafür gegeben, dass Mathilda sich von ihrer Herrin drangsaliert fühlte. Seit sie sich jedoch in der Gefangenschaft von Ritter Martin befanden, war Isabella wie ausgewechselt. Zum ersten Mal regte sich in Mathilda Widerstand gegen Isabella, Widerstand gegen ihr hochnäsiges und starrsinniges Verhalten. Zwar war auch Mathilda nicht klar, welcher Umstand Martin zu dieser radikalen Maßnahme bewogen hatte, doch es war ihm anzusehen, dass er sich dabei nicht wohlfühlte. Er musste sehr triftige Gründe dafür haben, und Mathilda hielt es für klüger, sich nicht seinen Unmut zuzuziehen und der Dinge zu harren, die da kommen würden. Keinesfalls glaubte sie, dass Martin ihnen etwas antun würde, wie Isabella vermutete.
Mathilda blickte über die Wiesen und sah nun auch den Grund, warum das große Burgtor offen stand. Alle Pferde grasten friedlich auf den Wiesen, und zwei Männer beaufsichtigten sie. Es waren Ritter Rudolf und sein Knappe Patrick. Mathilda erkannte gleich die hochgewachsene Figur des Ritters, der sie in seinen Armen aus dem Verlies von Gundram befreit und hierher gebracht hatte. Jawohl, sie sah es als eine Befreiung an, denn sie fühlte hier das erste Mal in ihrem Leben, dass sie ein selbstständig denkender und fühlender Mensch war. Sie war nicht mehr ein Teil von Isabella, ein Anhängsel, ein willenloses Werkzeug, das nur darauf zu achten hatte, dass Isabellas Haar gekämmt, ihre Kleider gerichtet, die Gebete eingehalten und die Etikette befolgt wurde.
Patrick stieß seinen Herrn an und wies mit der Hand hinauf zum Wehrgang. Rudolf drehte sich um und erblickte Mathilda. Er hob den Arm und winkte. Mathilda blickte sich verblüfft um, wem dieser Gruß wohl galt, doch sie befand sich allein auf dem Wehrgang. Zögernd hob sie ebenfalls den Arm zu einem Gruß. Jetzt winkte Rudolf mit beiden Armen. Was wollte er? Die beiden Männer steckten die Köpfe zusammen, und Patrick kam zur Burgmauer gelaufen, während Rudolf weiter in der Nähe der Pferde blieb. Er bückte sich und schien etwas im Gras zu suchen.
»Kommt herunter, Mathilda!«, rief Patrick, als er sich der Burgmauer auf Rufweite genähert hatte.
»Herunter? Wohin?«, fragte Mathilda verwundert.
»Hierher, raus aus der Burg. Es ist ein wunderschöner Tag. Ritter Rudolf würde gern mit Euch einen Spaziergang unternehmen!« Die blonden Locken des hübschen Jungen wehten im Wind, und über sein mädchenhaftes Gesicht flog ein glückliches Lächeln.
Mathilda presste ihre Hände auf die Brust. Sie sollte die Burg verlassen können und mit ihm – Ritter Rudolf – spazieren gehen? Sie zögerte. Konnte sie es wagen, einfach die
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