Der Kuss des Werwolfs - 1
war: 6. Januar 1818. Ein Todestag? Es würde passen, denn der Raum machte den Eindruck einer Gruft auf sie. Alles in ihr drängte sie, umzukehren und wegzulaufen, aber statt zu fliehen, trat sie an die Kiste heran, als würde eine unsichtbare Macht sie vorwärts ziehen.
Die Steinkiste war tatsächlich ein Sarg. Er war offen und darin lag — Rhodry! Sie erkannte ihn sofort.
Er war also bereits 1818 gestorben; sie hatte von einem Toten geträumt. Nola betrachtete sein schönes ebenmäßiges Gesicht — die Haut lag glatt über den Wangen als wäre er eben eingeschlafen und nicht vor zweihundert Jahren gestorben. Sie spürte, wie ihr Tränen in die Augen stiegen. Nie würde sie Rhodrys Umarmungen im wahren Leben spüren.
Bevor sie sich fragen konnte, was über sie gekommen war, beugte sie sich zu ihm herab. Sie wollte ihn nur für einen Moment betrachten und sich von ihm verabschieden. Doch dann beugte sie sich tiefer, berührte seine Stirn mit den Lippen, seine Augenlider und zuletzt seinen Mund. Rhodry fühlte sich nicht so kühl und tot an, wie sie es erwartet hatte.
Und auf einmal, beim letzten Kuss, schlug er die Augen auf. Ein pfeifender Atemzug entwich ihm. Dann pressten sich seine Lippen auf ihre. Der Kuss eines Toten.
Jäh wich sie zurück und griff sich an die Kehle. Ihr Mund öffnete sich zu einem Schrei, der immer höher und höher wurde und erst abbrach, als ihr die Luft ausging. Danach keuchte sie, als schnürte ihr jemand die Luft ab.
Rhodry war gar nicht tot! Was war er, ein Vampir? Ein Zombie?
Er richtete sich auf, sein Kopf wurde länger und schmaler, überall spross ihm Fell aus der Haut, die Kleidung riss auf. Vor ihren Augen verwandelte er sich in einen … Sie würgte.
Er sprang aus dem Sarg, stieß sie zur Seite und hetzte zur Tür hinaus. Als er verschwunden war, begann sie wieder zu schreien. Irgendwann wurde ihr schwarz vor Augen.
Über Rhodry spannte sich der Himmel einer sternenklaren Vollmondnacht, und er rannte aus purer Freude an der Bewegung. Seine Sinne waren angespannt, er nahm den Geruch der feuchten, dunklen Erde überdeutlich wahr und hörte den Wind durch das Heidekraut und die niedrigen Büsche streifen. Er sah die entfernten Lichter eines Dorfs — obwohl es gegen Mitternacht ging, brannten Kerzen in den Fenstern und würden es bis zur Morgendämmerung tun.
Die Menschen wollten sich mit dem Licht vor dem Bösen schützen, das angeblich in jeder Vollmondnacht umging. Lächerlich, als ob diese winzigen Flämmchen Werwölfe schrecken könnten. Silberne Kreuze oder Münzen in Fenstern und Türen könnten sie abhalten, aber die Leute waren zu arm, um sich Silber leisten zu können. Er und sein Rudel ließen sie in Ruhe, sie hatten kein Interesse daran, unter den Menschen Angst zu verbreiten. Sollten die an die Kraft der Kerzen glauben.
Aus der Dunkelheit kamen andere Werwölfe heran, schlossen sich ihm an. Einer rannte neben ihm. Er erkannte seinen Weggefährten Eugene. Alles war wie in unzähligen Vollmondnächten zuvor, und dennoch spürte er eine Veränderung. Da seine Wolfsinstinkte im Moment die anderen
Sinne überlagerten, kam er nicht dahinter, was es war. Diese Unruhe ließ ihn allerdings im Lauf früher innehalten als gewöhnlich, während die anderen weiterrannten auf der Suche nach frischen Fleisch und Blut. Schafherden waren ihr Ziel.
Eugene blieb bei Rhodry. Treuer Freund. Wenn er nur darauf käme, was heute anders war. Rhodry setzte sich auf die Hinterläufe und heulte. Von den umliegenden Hügeln erhielt er Antwort. Rhodry verspürte einen seltsamen Drang — nicht nach der Jagd, nicht nach Fleisch und Blut; es war … war … er kam sich verändert vor. Der Wind zauste das dichte Fell in seinem Nacken und schob eine Wolke vor den Mond. Er heulte noch einmal, bevor er mit gestreckten Sprüngen nach Shavick Castle zurückrannte, Eugene an seiner Seite.
Mehrmals war sie kurz aufgewacht und dann wieder auf dem Meer der Träume dahingeglitten. Sie hörte Rhodry. »Komm zu mir, Geliebte!«
Nola lag in demselben Bett, in dem sie auch in ihrem allerersten Traum gelegen hatte. Diesmal trug sie kein hochgeschlossenes Nachthemd, sondern eines der hauchzarten Dinger aus wenig Stoff, die sie zusammen mit Violet bei Harrod’s gesehen hatte. Kräftige, schmale Finger legten sich um ihr Handgelenk, und als sie die Augen aufschlug, sah sie Rhodrys Gesicht über sich. Inzwischen kannte sie jede Einzelheit. Blasse Haut, dunkle Augen, denen nichts entging, und schwarzes
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