Der Kuss des Werwolfs - 1
auf.
»Scheiße«, knurrte Eugene. Er musste vergessen haben, abzuschließen, als er das letzte Mal bei seinem Freund gewesen war. Er ballte die Rechte zur Faust und schlug sie gegen die Mauer.
Die junge Frau verschwand im Haus, und seiner Kehle entfuhr ein Knurren. Er wollte hinstürzen und sie herauszerren, sie davonjagen. Stattdessen folgte er ihr lautlos.
Sie hatte bereits die Küche, die Geschirrkammer und den hinteren Flur durchquert. Gerade öffnete sie die Tür, die in die Haupthalle führte. Wenn sie was anfasste oder einsteckte, würde er sie rauswerfen. Und wenn sie sich vor ihm so erschreckte, dass sie einen Herzanfall bekam, um so besser.
Sie ging durch die dunkle Halle. Eugene störte die Finsternis nicht, er sah im Hellen und im Dunklen gleich gut, aber die Frau tastete sich in den Raum hinein. Sie nahm ihren Rucksack ab und kramte darin herum, dann schaltete sie eine Taschenlampe ein. Der Strahl huschte über die Wände. Eugene duckte sich unter die Treppe.
Eleonore McDullen ging zuerst in den rechten Flügel des Hauses. Von der Halle gelangte sie in den Salon, in dem Morgenbesucher empfangen wurden. Oder besser gesagt: empfangen werden sollten, denn Eugene konnte sich nicht erinnern, wann Rhodry jemals Morgenbesucher empfangen hatte. Der Salon war genauso dunkel wie die Halle, der Strahl einer Taschenlampe reichte bei Weitem nicht aus, ihn zu erleuchten. Er huschte hin und her und blieb schließlich an einem Bild hängen: Es war ein großes Porträt von Rhodry aus dem 18. Jahrhundert und zeigte den Führer des Schottlandclans in schwarzen Kniehosen, einer schwarzen Jacke mit breiten Aufschlägen und goldfarbenen Knöpfen. Das Haar hatte er gepudert, als wollte er auf einen Ball gehen. In der Rechten hielt er ein Buch, und zu seinen Füßen spielten zwei Spaniel.
Eugene erinnerte sich, dass es Diskussionen um das Buch gegeben hatte. Der Künstler hatte Rhodry die Bibel in die Hand drücken wollen, denn er kannte sein wahres Wesen nicht. Doch der Werwolf hatte sich strikt geweigert, sich mit dem aus Werwolfsicht unheiligen Buch der Christen malen zu lassen.
Schließlich hatten sie sich auf Ciceros »De re publica« geeinigt. Die Spaniel hatte es in Wirklichkeit auch nicht gegeben; kein Hund spielte friedlich zu Füßen eines Werwolfs.
Nola McDullen trat dicht an das Bild heran.
»Nicht anfassen«, mahnte Eugene in Gedanken.
Der Strahl der Taschenlampe verharrte auf Rhodrys Gesicht. Sie studierte es.
»Rhodry«, murmelte sie. »Was willst du von mir?«
Eugene mit seinem scharfen Gehör verstand die Worte genau. Sie wusste von Rhodry. Was hatte sie mit ihm zu schaffen? Nur die Mitglieder des Schottlandclans und die Krakauer kannten sein Schicksal.
Sie hob eine Hand.
»Nicht anfassen!«, knurrte er leise.
Sie zog den Arm zurück und sah sich um. Hatte sie ihn gehört? Er drückte sich an den Türrahmen, verschmolz mit der Dunkelheit. Wieder näherte sich ihre Hand dem Bild. Eugene wagte kaum, zu atmen. Wenn sie es anfasste, wäre das ihr Ende. Angespannt beobachtete er, wie sie mit der Fingerspitze über den goldenen Rahmen strich … und dann die Leinwand berührte.
Er warf sich mit einem Satz auf sie — und landete auf dem Boden, dort, wo sie gestanden hatte. Er stieß sich die Schulter und stieß ein kurzes Jaulen aus — vor Überraschung, nicht aus Schmerz. Sie war weg. Eben hatte sie noch vor dem Bild gestanden und jetzt . Sie war nicht mehr im Raum, aber in der Luft hing ihr Geruch!
Er suchte sie im gesamten Haus. Vergebens. Außer in der Halle, in der Küche und im Besuchersalon nahm er auch nirgendwo ihren Geruch wahr.
Rätsel in der Finsternis.
Er dehnte die Suche auf den Hof aus — keine Spur von ihr. Als hätte sie sich in Luft aufgelöst. Aber niemand löste sich in Luft auf, nicht einmal Werwölfe beherrschten diesen Trick. Eugene fluchte laut. Wenn er sie nicht fand … Er war verantwortlich für Shavick Castle. Er hetzte zum Tor hinaus, umrundete die Burg. Doch die Frau blieb verschwunden.
Eleonore McDullen, Rhodry, die Derenskis - alles hing irgendwie zusammen, nur gelang es Eugene nicht, die Puzzleteile an die richtige Stelle zu setzen. Vor allen Dingen musste er sich vergewissern, dass bei Rhodry alles in Ordnung war, dann musste er die junge Lady finden. Sie war der Schlüssel zu allem. Er ging zurück zur Burg und in den Keller. Die Tür war auf die übliche Weise verriegelt.
Er atmete auf. Hier konnte sie nicht sein. Vorsichtshalber öffnete er die Riegel und
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