Der Kuss des Werwolfs - 1
Sie entschied sich dennoch dagegen, den Schuh auszuziehen und den Fuß zu untersuchen; die Gefahr war zu groß, dass sie dann jeden weiteren Schritt scheuen würde. Und das wäre ziemlich blöd, schließlich stand sie mitten im Nirgendwo.
»Meine Flucht nach Schottland war eine Schnapsidee«, dachte sie. »Vor den Tworeks hätte mich auch ein Last-Minute-Flug in die Türkei retten können. Dort könnte ich wenigstens am Strand liegen und eisgekühlte Cocktails schlürfen, anstatt durchs Hochland zu humpeln.« Innerlich fluchend zog sie zum wiederholten Male die Karte zu Rate. Hinter dem nächsten Hügel müsste die Burg sein — und länger würde ihre Ferse auch nicht durchhalten.
Sie wischte sich den Schweiß von der Stirn und holte entschlossen Luft. Nichts in ihrem Londoner Leben hatte sie auf die Highlands vorbereitet. Wenn sie ehrlich war, war ihr die weite menschenleere Landschaft heute geradezu unheimlich. Im Auto mit vierzig Meilen pro Stunde hindurchzufahren und von eigenen Kräutern auf dem Fensterbrett zu träumen, war etwas ganz anderes, als mutterseelenallein unter dem weiten Himmel zu stehen. Und heute schien die Sonne, wie würde es erst an einem wolkenverhangenen Tag oder im Winter sein?
Schweißperlen liefen ihren Rücken hinunter und ihre Ferse pochte, als sie die Kuppe erreichte. Auf der anderen Seite lagen der See und die Burg. Erleichtert ließ sie sich ins Gras fallen und starrte minutenlang auf die Ruine, froh, endlich angekommen zu sein. Sie holte die Wasserflasche aus dem Rucksack und trank in langen Zügen. Danach begann sie den Abstieg. Der Schmerz in ihrem Fuß war auf einmal erträglicher.
Shavick Castle sah genauso aus wie auf dem Bild in ihrem Buch. Die Burg lag auf einem Hügel, eine Brücke und eine ehemals gepflasterte Straße führten dorthin. Alles war aus dem grauen Feldstein der Highlands errichtet. Das Haupthaus und der Turm waren noch einigermaßen erhalten, die Nebengebäude verfallen. Torflügel waren keine mehr vorhanden, stattdessen verkündete ein Schild: Privatbesitz! Betreten verboten!
Nola zögerte nur kurz, bevor sie hineinging.
Eugene hatte sie entdeckt, als sie durch das Tor in seinen Hof geschaut hatte. Er hatte hinter dem Scheunentor gestanden und sie beobachtet. Als sie anschließend auf dem Trampelpfad Richtung Shavick Castle ging, folgte Eugene ihr und wählte den Weg über das Moor. Der Wind trug ihren Geruch herüber: Schweiß, Aufregung, Anstrengung. Er sah sie über die Hügel wandern und immer wieder eine Karte studieren. Sonst schaute sie stur nach vorn, hatte für die Landschaft keinen Blick. Eugene musste sich keine Mühe geben, um sich zu verbergen. Selbst wenn sie ihn entdeckt hätte, wäre er in ihren Augen nichts anderes als ein einheimischer Bauer, der nach seinen Schafen sah.
Erstaunlich, dass Eleonore McDullen hier aufgetaucht war, nachdem er sie in London keinen Schritt ohne die Derenskis an ihrer Seite hatte tun sehen. Etwas ging vor, und er musste herausfinden, was. Das Rudel war auf der Monterey-Farm versammelt und bereit, den Krakauern entgegenzutreten, sobald sie sich auch nur eine Nasenspitze weit nach Schottland hineinwagten. Eugene fragte sich, ob die Frau eine Vorbotin war, und beobachtete, dass das »Betreten verboten«-Schild, das er vor der Burg aufgestellt hatte, sie nur kurz aufhielt. Dann betrat sie den Hof und verschwand aus seinem Sichtfeld. Er rannte lautlos den Hügel hinunter, spähte um den Torpfeiler und sah sie über den Hof gehen.
Das Gefühl, ein Alphaweibchen vor sich zu haben, bemächtigte sich seiner. Prüfend sog er die Luft ein. Sie war aufgeregt, während sie sich umschaute, als suche sie etwas. Sie ging auf das Haupthaus zu, versuchte, durch eine Ritze an einem der vernagelten Fenster zu schauen, gab es schließlich auf und rüttelte an der Eingangstür.
»Schlange«, murmelte Eugene. Sie hatte kein Recht, ins Haus zu gehen, nicht einmal daran denken sollte sie.
Jetzt ging sie um das Haus herum, verschwand um eine Ecke und geriet erneut aus seinem Blickfeld. Drei, vier Sprünge brachten ihn über den Hof und zur Hausecke. Die Frau stand inzwischen an der
Seitentür, die Eugene immer benutzte, um ins Haus und zu Rhodry zu gelangen. Die Tür hatte im oberen Bereich eine Scheibe, und sie spähte hindurch, versuchte, etwas zu erkennen. Vergeblich, denn innen hing eine schwarze Gardine. Moira hatte sie angebracht, damit genau das nicht passierte.
Eleonore McDullen probierte die Klinke aus, und die Tür ging
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